Karl Aiginger: Forschungs- statt Militärausgaben.

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Europa hat schwierige Jahre erlebt. Seit der Finanzkrise fünf "verlorene Jahre" ohne Dynamik, dafür mit steigender Arbeitslosigkeit und Verschuldung. Jetzt schaut es wieder besser aus. Der Schutzschirm, der Fiskalpakt und die Garantie von EZB-Chef Mario Draghi, "alles Nötige zu tun", um den Euro zusammenzuhalten, haben die Zinsen purzeln lassen. Die Konjunktur erholt sich; selbst in den Krisenländern steigen die Exporte. Die Budgetdefizite sind gesunken.

Heuer sind Europawahlen. Das kann dazu genutzt werden, die bestehenden Probleme anzusprechen. Zu zeigen, wie Europa noch besser werden kann. Wahlkampf kann aber auch zu einem Jahr der Lähmung führen, wenn sich Berater und Kommissare verabschieden, um daheim um Stimmen zu werben. Nach den Wahlen wird es Zeit brauchen, die neue Kommission zu bilden. Dann ist das Jahr 2014 vorbei und das Zeitfenster für einen Neustart der Wirtschaftspolitik wäre verstrichen.

Hier platzt eine ernüchternde Analyse der Kommission herein. Europa wird - wenn es seinen Kurs nicht ändert - die wichtigsten Ziele der Europa-2020-Strategie nicht erreichen:

  • Das Ziel, die Beschäftigungsquote bis 2020 auf 75 Prozent zu heben, wird verfehlt. Heute liegt die Beschäftigungsquote um fast sieben Punkte oder 16 Millionen Beschäftigte unter dem Zielwert.
  • Die Forschungsausgaben sollen auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung steigen, heute sind es 2,2 Prozent. Österreich macht seit einigen Jahren keinen wesentlichen Fortschritt mehr und ist von seinem selbstgesteckten Ziel von 3,76 Prozent weit entfernt. Im EU-Innovationsranking ist es von Platz sechs auf Rang zehn abgerutscht und liegt nur noch minimal über dem europäischen Durchschnitt. Das zweite Durchschnittsergebnis - neben dem Pisa-Ergebnis - für das zweitreichste Land Europas. Sollen wir auch bei Innovationsfähigkeit aufhören, uns bewerten zu lassen?
  • Das Ziel, 20 Millionen Europäer aus der Armutsfalle zu befreien, scheint ebenfalls schwer erreichbar. Nach einer Reduktion auf 114 Millionen Personen bis 2009 stieg die Zahl der Armutsgefährdeten seither wieder auf 124 Millionen, das sind 28 Millionen Schicksale vom Ziel entfernt.
  • Nur auf den ersten Blick näher liegt Europa bei der Energieeffizienz. Der Rückgang der Industriequote und die Stilllegung von Emissionsschleudern in Osteuropa haben die Effizienz erhöht. Selbst unter diesen Umständen bekennt die Kommission, dass "zusätzliche Anstrengungen" nötig sind. Die Energieeffizienz sollte besonders auch deshalb erhöht werden, um die niedrigeren Energiepreise in den USA auszugleichen.

In all diesen Bereichen, die im Zentrum der Europa-2020-Strategie stehen, kann und sollte also noch mehr geschehen. Der Europäische Rat tritt morgen in Brüssel zusammen. Und da werden die Leitlinien festgelegt, nach denen die Länder 2014 ihre Wirtschaftspolitik ausrichten sollen. Sie werden von der EU-Kommission im "Jahreswachstumsbericht" vorbereitet und dann vom Europäischen Rat in der Regel unverändert bestätigt. Anschließend finden sie Eingang in die Nationalen Reformprogramme, die für die Umsetzung der Leitlinien auf nationaler Ebene sorgen sollen.

Die Richtlinien sind alles andere als ambitiös. Die Prioritätsfelder des Vorjahres werden einfach fortgeschrieben. Forschung soll "abgesichert", d. h. nicht weiter gekürzt werden, Energieeffizienz fehlt als Prioritätsfeld.

Das könnte der Europäische Rat noch ändern. Gerade wenn festgestellt wird, dass die Ziele verfehlt werden, und man auf der Gemeinschaftsebene nicht viel erwarten kann (weil die Kommission erst spät wieder arbeitsfähig ist), dürfen die Vorgaben für die Wirtschaftspolitik der Länder für 2014 nicht lustlos und zahnlos bleiben!

Ein wichtiger Leitsatz für die Nationalen Programme wäre es, Maßnahmen vorzuschlagen, die dazu dienen, ein Viertel des Abstandes zu den nationalen Zielen für 2020 in den Jahren 2014 und 2015 zu schließen. Wenn 100.000 Beschäftigte fehlen, 25.000 in den beiden nächsten Jahren, dann ist der Rest bis 2020 nicht utopisch.

Ein Prioritätsfeld für Nachhaltigkeit sollte ergänzt werden. Der Spielraum für Aktivmaßnahmen sollte durch Einsparungen erhöht werden, etwa durch Reduktion der Subventionen auf fossile Energie, Fokussierung der Agrarförderung auf neue Arbeitsplätze und biologische Produkte, Nutzung des Einsparungspotenzials im militärischen Bereich durch europäische Zusammenarbeit (nach Schätzung sind 30 Mrd. Euro möglich, etwa der Betrag, den man für Senkung der Jugendarbeitslosigkeit bräuchte). Steuern auf Arbeit und für Klein- und Mittelbetriebe sollten gesenkt werden, durch Bekämpfung des Steuerbetrugs, aber auch durch die Erhöhung von Steuern auf Erbschaften, Emissionen und Grundbesitz.

Wenn der Rat die Ziele schärft, dann ist es kein Problem, dass 2014 ein Wahljahr ist, weil dann die nationalen Reformprogramme die Strategie "weitertreiben". Im Wahlkampf sollen wir auch die Vision diskutieren, Europa dynamischer, sozialer und ökologischer zu gestalten. Das wäre das fortschrittlichste sozioökonomische Modell der Welt. Eine lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Die Chance besteht, die lustlosen Vorgaben der Kommission für die Nationalen Programme für 2014 am kommenden Rat zukunftsfähiger zu machen. (Karl Aiginger, DER STANDARD, 19.3.2014)