Während die Europäische Union ihren Einsatz in der Zentralafrikanischen Republik infolge der Ukraine-Krise wohl auf Ende April verschieben muss, geht die humanitäre Krise in dem Land unvermindert weiter. Marcus Bachmann war von Ende Dezember bis Anfang März für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen als Projektkoordinator im Land. Eine derart instabile Situation habe auch er bei seinen zahlreichen humanitären Einsätzen noch nie erlebt, sagt er im Interview mit derStandard.at. Beschämend sei es daher, dass die internationale Gemeinschaft sich bisher – trotz Erschießungen in Krankenhäusern und fast alltäglicher Massaker an flüchtenden Zivilisten – nicht zu einem stärkeren Eingreifen durchringen konnte.
derStandard.at: Nach Amtsübernahme der neuen Präsidentin Catherine Samba-Panza in Zentralafrika schien es kurz Optimismus zu geben. Wie war Ihre Wahrnehmung der Lage? Gab es Verbesserungen?
Bachmann: Ende Jänner gab es schon eine so starke Polarisierung, dass es sehr unwahrscheinlich schien, dass es mit dem Wechsel von einem Interimspräsidenten zum anderen getan sein würde. Das symbolische Quäntchen Macht und Optimismus, das Samba-Panza repräsentieren konnte, war nach zehn Tagen verloren. Bei einer Angelobungszeremonie der Armee kam es zu einer Lynchaktion, direkt vor ihren Augen und vor den Augen des Verteidigungsministers.
derStandard.at: Unterliegen die Kämpfer noch einer Kontrolle? Oder hat sich das verselbstständigt?
Bachmann: Ich habe noch nie in einem Kontext gearbeitet, wo es zu solchen Brüchen gekommen ist. Wo alle Annahmen, die Gültigkeit hatten, über Nacht komplett ungültig geworden sind. Es kommt zu enormen Machtverschiebungen. Die Ex-Séléka, die früheren muslimischen Rebellen, haben massiv an Macht eingebüßt. Teils, weil sie entwaffnet wurden, teils, weil sie Legitimität verloren haben. Als ihre Führung über Nacht das Land verlassen hat, ist es zu einer völligen Desintegration gekommen.
derStandard.at: Und die andere Seite?
Bachmann: Die christlichen Anti-Balaka-Milizen sind sehr heterogen, das ist vermutlich ihrem Ursprung als Nachbarschaftswehren geschuldet. Lange Zeit haben sie ihre Macht ausbauen können, aber dann haben afrikanische und französische Truppen damit begonnen, auch sie zu entwaffnen. Was fehlt, sind klare Führungsstrukturen. Es ist schwer, jemanden zu finden, der das Ganze steuern könnte.
derStandard.at: Es ist oft von religiösen Gegensätzen die Rede. Ist das eher ein Code für eine Gruppenzuordnung, oder ist es tatsächlich das, was man als religiösen Konflikt verstehen würde?
Bachmann: Die Zentralafrikanische Republik hat keine Tradition religiöser Spannungen, aber Religion ist ein sehr praktisches Label, um zu polarisieren. Ich habe mit Kollegen gearbeitet, die heißen Alphonse-Moussa oder Mohammed-Joseph. Das ist das beste Beispiel dafür, dass Religion im Zusammenleben bis vor kurzem überhaupt keine Rolle spielte.
derStandard.at: Wurde Ihre Arbeit akzeptiert?
Bachmann: Phasenweise gab es überhaupt keinen humanitären Raum mehr. Bewaffnete beider Seiten haben Krankenhäuser überfallen. Sie haben Patienten aus den Betten und aus den Rollstühlen geholt und dann im Garten in Massen exekutiert. Viele unserer Patienten haben sich geweigert, noch in Krankenhäuser zu gehen. Selbst dann, wenn sie schwerstkrank oder verwundet waren. Die Antwort, die wir bekommen haben, war: "Wenn ich ins Krankenhaus gehe, werde ich auf jeden Fall sterben."
derStandard.at: Wie ist das Verhältnis zwischen direkten Folgen der Gewalt und indirekten, etwa Mangel und Krankheiten?
Bachmann: In erste Linie haben wir direkte Folgen von Gewalt gehabt. Mitte Dezember bis Ende Jänner hat Ärzte ohne Grenzen mehr als 5.000 Opfer von Gewalt allein in Bangui behandelt. Im Februar und im März waren es jede Woche hunderte und noch einmal hunderte außerhalb der Hauptstadt. Zu den indirekten Folgen: Anfang Jänner lebte der Großteil der Menschen nicht mehr in Häusern, sondern in Flüchtlingscamps. Dort litt mehr als die Hälfte der Kinder unter Malaria, weil sie ohne Moskitonetze schlafen. Es gab viele Durchfallerkrankungen, weil die Menschen kaum sauberes Wasser bekommen, und viele Atemwegsinfektionen und Lungenentzündungen, weil sie im Freien übernachten. In einem Camp war ein Viertel der Kinder unter vier Jahren schwerst unterernährt.
derStandard.at: Wie ist die Lage außerhalb der Hauptstadt?
Bachmann: Ärzte ohne Grenzen ist in 14 Städten oder Regionen tätig. Das Zentrum des Konflikts war zunächst klar in Bangui, mit der Absetzung der Ex-Séléka hat er sich im Westen und Norden des Landes ausgebreitet. Muslime, die zu Zehntausenden aus der Hauptstadt flohen, werden angegriffen. Sie haben sicher das Bild von einem afrikanischen Lastwagen vor Augen, der vollbepackt mit Fracht ist, und oben drauf sitzen die Menschen. Da werden Handgranaten hinaufgeworfen. Menschen werden von Lkws gezerrt und exekutiert.
derStandard.at: Können die afrikanischen und französischen Truppen etwas ausrichten?
Bachmann: Die UNO hat die Verpflichtung, für Schutz und Sicherheit zu sorgen. Das ist ein wesentlicher Punkt in ihrer Charta. Militärisches Eingreifen ist das letzte Mittel. Aber die komplette Implosion des Staates ist ein großes Problem, genauso wie jene der internationalen Gemeinschaft und die Ineffektivität der Vereinten Nationen. Personal und Ressourcen müssen massiv erhöht werden. Es ist beschämend, dass von einem Spendenaufruf für 500 Millionen Euro für das erste Halbjahr 2014 vor kurzem gerade einmal 15 Prozent erfüllt wurden.
derStandard.at: Wie gehen Sie selbst mit dem Erlebten um?
Bachmann: Am Anfang schrieb ich in mein Tagebuch: Ich muss aufpassen, dass die Abnormität nicht zur Normalität wird. Ich muss gestehen, dass man in diesem Umfeld schockierendster Gewalt in eine Art Survival-Mode schaltet: Man funktioniert, man denkt – aber man fühlt nicht mehr. Jetzt, wo ich wieder zurück bin, erfahre ich erst so richtig die Schwere der der Gewalteinwirkung, der ich täglich ausgesetzt war. Es sind mentale Tattoos. Ich muss mir sehr viel Zeit nehmen, um mich den Dingen, die ich erlebt habe, so zu stellen, dass ich damit vernünftig leben kann. (Manuel Escher, derStandard.at, 20.3.2014)