Schädel eines Dickhornschafs auf der mexikanischen Insel Tiburón: Seit den 1970ern hat die Insel eine stabile Population der Tiere - dass die Spezies hier früher schon einmal gelebt hat, weiß man erst seit jetzt.

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Riverside - Antarktische Pinguine in Norwegen und arktische Rentiere auf der Insel Südgeorgien: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war man recht freimütig, wenn es darum ging, Tiere in Regionen fernab von deren ursprünglicher Heimat anzusiedeln. Als Nahrungsquelle, Nutztiere, Beute für den Jagdsport und manchmal - wie etwa im Fall der Pinguine - offenbar nur aus dem Gedanken heraus: Warum nicht? Die Ergebnisse waren unterschiedlich - die Pinguine haben im hohen Norden nicht überlebt, die Rentiere in Antarktis-Nähe schon.

Wenn sich gebietsfremde Arten mangels natürlicher Feinde unkontrolliert vermehren und zur Belastung des Ökosystems werden, spricht man von Bioinvasoren. In den meisten Fällen handelt es sich um unabsichtlich eingeschleppte Arten - zoologische Experimente wie die oben genannten wirken daher aus heutiger Sicht schon fast frivol. Dementsprechend gab es Kritik an einem mexikanischen Auswilderungsprojekt in den 1970er Jahren, als das Bewusstsein für die Konsequenzen von Faunenverfälschung schon wesentlich höher war als im frühen 20. Jahrhundert.

Erfolgreiche Auswilderung

1975 wurden in Mexiko im Zuge einer Artenschutzmaßnahme 16 weibliche und vier männliche Dickhornschafe (Ovis canadensis) vom Festland auf die Insel Tiburón im Golf von Kalifornien gebracht. Die Population wuchs rasch auf 500 Tiere an, da auf der Insel natürliche Feinde wie etwa Pumas fehlten und die Jagd auf die Tiere stark reguliert war. Außerdem gab es auf Tiburon keine Hausschafe, die ansteckende Krankheiten verbreiteten. Das starke Anwachsen der Schafpopulation sah ganz nach einem klassischen Fall einer vom Menschen verursachten Bioinvasion aus.

Ganz so ist es jedoch nicht, wie nun ein etwa 1.500 Jahre altes Kot-Häufchen beweist - der fossile Kot stammt nämlich von einem Dickhornschaf. Forscher um Benjamin Wilder von der University of California Riverside schreiben im Fachmagazin "PLoS One", dass die umstrittene Auswilderungsaktion nun in einem neuen Licht erscheine. Tiburón war offenbar schon früher Teil des natürlichen Verbreitungsgebiets der Tiere. Die bis zu 140 Kilogramm schweren Dickhornschafe kommen in weiten Teilen des nordamerikanischen Westens vor, wo sie Gebirge, Wüsten und Trockengebiete bevölkern; die Spezies gilt als nicht gefährdet.

Wilder und sein Team wollten auf Tiburón eigentlich Nagetier-Populationen untersuchen, stießen aber in einer Höhle auf eine Ansammlung von fossilem Kot, der durch kristallisierten Urin verfestigt worden war. Eine Altersbestimmung kam auf 1.476 bis 1.632 Jahre, eine genetische Analyse ergab später, dass es sich bei der Probe um Dickhornschaf-Kot handelt. Das Erbgut ähnelte dem von Dickhornschafen aus dem südlichen Arizona und aus Kalifornien, unterschied sich aber in einigen Merkmalen von dem der derzeit auf Tiburón lebenden Population.

Überraschung und Umdenken

Die Entdeckung, dass das Dickhornschaf schon einmal auf der Insel heimisch war, kam als Überraschung. Nicht nur die Wissenschaft hatte davon nichts gewusst. Auch beim indigenen Volk der Seri, das die Region bewohnt, ist keine Erinnerung an eine frühere Schafpopulation auf der Insel erhalten geblieben, erklärten die Forscher, die für ihr Projekt mit Seri zusammengearbeitet hatten.

Vermutlich seien die Schafe während des Pleistozäns auf der Insel heimisch gewesen, als diese noch eine Verbindung zum Festland hatte. Durch den ansteigenden Meeresspiegel wurde die Insel vor etwa 6.000 Jahren vom Festland getrennt und die Dickhornschafe dadurch isoliert. Irgendwann in den vergangenen rund 1.500 Jahren seien die Tiere dann ausgestorben. Inzucht, lange Dürren oder eine zu starke Bejagung durch den Menschen könnten die Ursachen dafür gewesen sein.

Die Wahrnehmung der Schafpopulation auf der Insel dürfte sich durch die neuen Erkenntnisse verschieben: Bis eben noch als potenziell schädliche Invasoren misstrauisch beäugt, rückt nun der Schutz der Tiere ins Zentrum des Interesses - damit ihnen auf der Insel nicht noch einmal das gleiche Schicksal widerfährt wie schon einmal. (jdo/APA, derStandard.at, 23. 3. 2014)