Dort, wo Ballone an Häuserdächern vorbeidriften: Georg Friedrich in "Über-Ich und Du". 

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Graz - Eine der Paradoxien, die sich auf der Diagonale regelmäßig wiederholen: Während das Festival in fünf dichten Tagen die große Bandbreite des heimischen Films unter Beweis stellt, wird ebendiese Vielfalt an anderer Stelle schon bedroht. Die Reduktion des Film/Fernseh-Abkommens des ORF gefährdet die Branche in ihren Grundfesten. In einem zum Auftakt präsentierten Video fordern nun prominente Filmschaffende (darunter Josef Hader, Ursula Strauss, Lukas Resetarits und Ernie Mangold) die Politik auf, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Ziel ist es, gesetzlich festzuschreiben, dass 20 Prozent der Gebühreneinnahmen an heimische Produktionen gebunden werden. Es wäre ein entscheidender Schritt, um sich von den Unwägbarkeiten des ORF zu befreien.

Dass mit der internationalen Anerkennung des heimischen Kinos auch das Renommee einzelner Protagonisten verknüpft ist, versteht sich von selbst. Georg Friedrich, soeben mit dem großen Diagonale-Schauspielpreis gewürdigt, beweist dies in der hübsch-verschrobenen Psycho-Komödie Über-Ich und Du, einer österreichisch-deutschen Koproduktion, in der geografische Bestimmungen nicht viel gelten: Benjamin Heisenbergs Film spielt in einem Fantasieland nahe den Alpen, in dem Ballone gefährlich nahe an Häuserdächern vorbeidriften. Friedrich ist Nick, ein Schlawiner, der sich in die Sommerresidenz eines Psychiaters (André Wilms) einschleicht.

Zwischen den beiden Männern entspinnt sich eine Beziehung, in der die jeweiligen Interessen bald von unbewussten Prozessen überlagert werden. Heisenberg findet einen pointiert absurden Tonfall, der sich eher an der Spintisiererei der Surrealisten orientiert als an gegenwärtigen Formaten. Die Dynamik des Buddy-Movies läuft auf die Erkenntnis hinaus, dass wir den anderen brauchen, aber oft gar nicht genau wissen, warum.

Eine stille Reverenz

Der Wiener Regisseur Ludwig Wüst setzt seine Serie persönlicher Filmdramen auf der Diagonale mit Abschied fort: Johanna und Helene, verkörpert von Claudia Martini und Martina Spitzer, sind einander freundschaftlich und durch kleine wechselseitige Arbeitsleistungen verbunden. Ihr Treffen in einem Wohnraum beginnt in einem leicht komischen Tonfall. Die Zoombewegung, die währenddessen kaum merkbar abläuft und Michael Snows Avantgardefilmklassiker Wavelength Reverenz erweist, korrespondiert jedoch bald mit einer Intensivierung der Gefühlslagen.

Das hochemotionale Zentrum wird damit konzeptuell doch recht kalkuliert angesteuert. Aber dann, nach rund zwei Dritteln des Films, gibt es einen überraschenden und befreienden Schnitt nach draußen: Überwachungskameras liefern eine Serie von flüchtigen Szenen eines Ausbruchs, skizzieren eine Passage durch den Stadtraum und seine luftigen Brachen.

Erwartungen sind heuer auch an eine Reihe von Dokumentarfilm-Premieren geknüpft. Eine davon stammt von Ivette Löcker, die mit Nachtschichten vor drei Jahren den Diagonale-Preis erhalten hat. In Wenn es blendet, öffne die Augen beschreibt die Filmemacherin den Alltag eines Junkie-Paares, das gemeinsam mit einem Elternteil in einer 30-Quadratmeter-Wohnung in St. Petersburg lebt. Kürzere Einschübe eines Punk-Rock-Konzerts erweitern das intime Porträt zur Momentaufnahme der Umbruchsgeneration, für die der Gewinn von Freiheit auch den Verlust von Integrität bedeutet hat. Wenn es blendet, öffne die Augen ist der seltene Fall eines Filmes, in dem aus der Beschreibung des nackten Daseins eine berückende Poesie entsteigt - irgendwo zwischen Lech Kowalski und Viktor Kossakovsky: Zhanna, Lyosha und dessen Mutter schenken sich nichts in Worten, Aufrichtigkeit ist Fundament ihres Überlebens, aber dazwischen werden wir immer wieder ihrer Liebe gewahr. (Dominik Kamalzadeh, Isabella Reicher, DER STANDARD, 21.3.2014)