Wien - Das Wirken Otto Neuraths hat viele Facetten: Erfinder der Wiener Methode der Bildstatistik, die in ihrer Weiterentwicklung als Piktogramme von Toilette bis Olympische Spiele heute allgegenwärtig ist, Sozialökonom, Volksbildner und Austromarxist im Roten Wien. Vernachlässigt wurden bisher vor allem seine politischen Aktivitäten, ist Güntner Sandner, Politikwissenschafter an der Uni Wien, überzeugt.

Nun ist im Zsolnay Verlag Sandners Neurath-Biografie erschienen, die auf seinem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Forschungsprojekt basiert. Ziel sei es gewesen, sowohl eine intellektuelle als auch politische Biografie vorzulegen, wie der Forscher erklärt. "Es gibt Verbindungslinien im Werk und Leben Neuraths, die sich am besten politisch beschreiben lassen. Deswegen habe ich auch eine politische Biografie geschrieben."

Die Beziehungen und die Familie Neuraths werden für Sandner immer dann spannend, wenn sich Politik und Privates überschneiden. Er skizziert, inwieweit Neurath auch aus seinem privaten Umfeld beeinflusst wurde. "Überraschend war für mich etwa der starke intellektuelle Einfluss, den seine spätere Frau, die Feministin Anna Schapire, auf ihn ausübte", so Sandner. Auch der Austausch mit der schwedischen Reformpädagogin Ellen Key schon zu Schulzeiten und die frühe Politisierung als Student in Berlin seien bisher unbeachtet geblieben.

Nichtpräsenz nach 1945

Neurath habe sich von einem sozialliberal orientierten, mit der revisionistischen Strömung innerhalb der deutschen Sozialdemokratie sympathisierenden Berliner Studenten zu einem austromarxistischen Intellektuellen im Roten Wien entwickelt. "Ein Kontinuum dabei war das utopische Denken, das er stets für vereinbar mit Wissenschaft gehalten hat. Utopien waren gedachte zukünftige Ordnungen, keine unrealistischen Träumereien", schildert Sandner den "Volksbildner" und "Wissenschafter des Glücks".

Jahrelang konzentrierte man sich in der Aufarbeitung von Neuraths Werk allerdings vor allem auf den Bildpädagogen: Seine Bildstatistik, die Isotypen und sein Hauptwerk "Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatistisches Elementarwerk", heute meist kurz "Atlas" genannt, traten in den Vordergrund. Andere Aspekte seien davon sicherlich überlagert worden, meint Sandner. Auffallend sei vor allem der krasse Gegensatz zwischen der Popularität, die Neurath im Roten Wien genoss, und der Nichtpräsenz, die er nach 1945 erfuhr.

"Einiges ist zu Unrecht vergessen worden. Ich denke dabei etwa an seine Lebenslagen-Forschung - eng mit seinem Glücksbegriff verbunden -, die absolut anschlussfähig ist an nach wie vor aktuelle Fragen nach einem anderen, besseren Leben und einer alternativen ökonomischen Ordnung." Auch wenn die Charakterisierung Neuraths als eines der am meisten vernachlässigten Genies des 20. Jahrhunderts heute - auch bedingt durch die internationale Forschung - nicht mehr in dieser Form gelte, könne die These von der Vernachlässigung Neuraths nicht ganz ad acta gelegt werden. "Bis heute existiert keine vollständige Werkausgabe, und meine Biografie ist die erste ihrer Art - fast 70 Jahre nach Neuraths Tod."

Bilder-Esperanto

Den Grund dafür sieht er vor allem im österreichischen Umgang mit durch die Nationalsozialisten vertriebenen Wissenschaftern nach dem Zweiten Weltkrieg. "Als anti-metaphysischer Sozialist mit jüdischem Familienhintergrund hätte Neurath auch nicht gut in das intellektuell restaurative Klima der Nachkriegszeit gepasst. Da war er sicher kein Einzelfall", so Sandner. Für seine Biografie wertete Sandner Dokumente aus rund 30 Archiven und die "unglaubliche Fülle" an zeitgenössischen Publikationen aus.

Otto Neurath, 1882 in Wien geboren, wurde vor allem als Entwickler der "Wiener Methode der Bildstatistik" bekannt. Gemeinsam mit dem deutschen Grafiker Gerd Arntz setzte er seine Idee des "Bilder-Esperanto" um und entwickelte das Bildersprachen-System Isotype, welches er zur Veranschaulichung von statistischen Größen und Mengenverhältnissen einsetzte.

Darüber hinaus war Neurath einflussreiches Mitglied des Wiener Kreises sowie Gründer des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien und des Mundaneum-Instituts in Den Haag: Dort wollte er die Organisation des Weltwissens nach der Logik von Datenbanken umsetzen. Als bekennender Sozialist mit jüdischem Hintergrund wurde Neurath zur Flucht zuerst in die Niederlande, dann nach Großbritannien gezwungen. 1945 verstarb er in Oxford. (APA, 20.3.2014)