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Der menschliche Geruchssinn dürfte bisher stark unterschätzt worden sein. Unsere Nase scheint ein sehr viel feineres Unterscheidungsvermögen zu besitzen als die Augen und die Ohren.

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New York/Wien - Als die US-Wissenschafter Linda Buck und Richard Axel 2004 den Medizin-Nobelpreis für ihre wichtigen Beiträge zur Erforschung des Riechsystems erhielten, gab es auch eine Presseaussendung der Stockholmer Nobel-Stiftung. Darauf stand, dass wir Menschen rund 10.000 verschiedene Düfte erkennen könnten. Diese Zahl wurde in der Presse mit der Entdeckung der Nobelpreisträger in Verbindung gebracht, doch diese hatten das nie behauptet.

Avery Gilbert, ein Geruchsforscher und Buchautor, ging in seinem lesenswerten Werk What the Nose Knows 2008 der Frage nach, woher diese runde Zahl stammt. Nach langen Recherchen entdeckte er sie in einem Lehrbuch für Nahrungsmittelchemie aus dem Jahr 1999, das eine Studie der Beratungsfirma Arthur D. Little aus dem Jahr 1954 zitierte. Und diese Studie wiederum verwies in einer Fußnote auf einen Chemie-Ingenieur namens Ernest C. Crocker, der 1927 auf diese Zahl kam. (Ursprünglich hatte er eine Anzahl zwischen 2016 und 4410 ermittelt, sie dann aber großzügig aufgerundet.)

Wie viele Gerüche sind es nun aber wirklich, die wir unterscheiden können? Gilbert drückt sich mit einer sprachphilosophischen Finte um eine Antwort: Der Mangel an sprachlichen Ausdrücken für Gerüche würde womöglich auch unser olfaktorisches Differenzierungsvermögen begrenzen. Ein paar 100.000 Düfte würden wir aber unterscheiden können.

Ein Vergleich mit dem Auge lässt allerdings Zweifel auch an der höheren Zahl aufkommen, wie die US-Forscherin Leslie Vosshall erklärt: "Wir haben nur drei Rezeptoren im Auge, mit denen wir rund zehn Millionen verschiedene Farben unterscheiden können. Aber eine normale Nase hat 400 Geruchsrezeptoren."

Bleibt das Problem, wie man die Unterscheidungsfähigkeit der Nase testen soll. Für Augen und Ohren lässt sich das einfacher bestimmen: durch das Spektrum der vom Menschen sichtbaren Wellenlängen des Lichts und der hörbaren Tonfrequenzen. Beim Gehör kommt man Schätzungen zufolge immerhin auch schon auf etwa 340.000 unterschiedliche Töne.

Vosshall und ihre Kollegen vom Howard Hughes Medical Institute und der Rockefeller University in New York fanden eine Lösung für das Problem und entwickelten ein einfaches und doch ausgeklügeltes Testsystem: Die Forscher mischten Duftcocktails aus zehn, 20 oder 30 unterschiedlichen Ingredienzien und testeten, wie gut Menschen die Geruchsmixturen unterscheiden konnten. Aus jeweils drei Proben sollten 26 Teilnehmer jenen Geruch auswählen, der von den anderen beiden identischen Mixturen abwich - oft nur durch wenige Bestandteile.

Das Ergebnis der Experimente kam nicht ganz überraschend: Selbst wenn bis zu 75 Prozent der Bestandteile übereinstimmten, konnte mehr als die Hälfte der Teilnehmer die Mixturen zuverlässig unterscheiden. Einige besonders gute Nasen konnten sogar Duftcocktails auseinanderhalten, die zu 75 bis 90 Prozent übereinstimmten.

Das war bloß der erste Schritt. Im zweiten Schritt rechneten die Wissenschafter die Testergebnisse hoch und kamen im Fachblatt "Science" zum Ergebnis, dass die Nase mindestens eine Billion Gerüche unterscheiden kann. Diese Schätzung sei sogar noch konservativ. Denn wie viele verschiedene Geruchsmoleküle es insgesamt gibt, ist bisher nicht bekannt. Damit sei auch unbekannt, wie viele davon die Nase erkennen kann. Dazu kommt, dass jeder Geruch aus vielen verschiedenen Geruchsmolekülen besteht - jener nach Rosen etwa hat genau genommen 275 Bestandteile.

Die Nase kann also weit mehr Reize wahrnehmen, als man bisher annahm, resümiert Vosshall. "Und wir hoffen, dass unser Artikel das Vorurteil aus der Welt schaffen wird, dass wir Menschen nur einen schlechten Geruchssinn hätten." (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 21.3.2014)