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Die Stadt Hasankeyf am Tigris. Wird der Ilisu-Staudamm gebaut, würden 80 Ortschaften geflutet.

Foto: Reuters/Saribas

"Yurttas Kazim" nennen sie ihn hier anerkennend, den "Bürger Kasim", der Gott und die Welt in Bewegung setzt, um ein Wasserkraftwerk in seinem Dorf zu verhindern. "Acht Jahre meines Lebens und mein ganzes Geld hat mich der Kampf gekostet", sagt der Bürger Kasim. Seine Kuh hat er mittendrin verkauft, um Gutachter zu bezahlen. Gewonnen hat Kasim Delal immer noch nicht wirklich. Die Kraftwerkslobby ist mächtig.

Tausende von Dorfbewohnern in der Türkei rebellieren seit Jahren schon wie "Bürger Kasim" gegen den Bau von Wasserkraftwerken. Seit die Regierung 2003 mit der Liberalisierung des Energiesektors begann, ist die Zahl der Kraftwerksprojekte explodiert: Innerhalb eines Jahrzehnts ist die Stromerzeugung aus erneuerbarer Energie um das 17-Fache gestiegen - auf über 26.000 Gigawattstunden (GWh) laut einer neuen Studie der Weltbank.

"Bürger Kasim" führt den Aufstand an

Dabei geht es zumeist um kleine Kraftwerke, die Bürgermeister zur Versorgung ihrer Städte bauen lassen wie im Bergland hinter Rize, weit im Osten der türkischen Schwarzmeerküste, wo "Bürger Kasim" in seinem Dorf den Aufstand anführt. "Wenn die Regierung eine andere wäre, hätte ich es leichter", sagt der heute 69-Jährige über die konservativ-religiöse AKP. "Aber diese Leute kehren nicht mehr um, wenn sie etwas einmal beschlossen haben."

240 Wasserkraftwerke, komplett mit Damm und Stauseen, gibt es derzeit in der Türkei; um die 600 sollen derzeit in Planung sein, und 1600 solcher Kraftwerke will die Regierung bis 2040 im Land in Betrieb haben - acht Prozent des immer nur steigenden Energiebedarfs in der Türkei sollen dann durch Wasserkraft gedeckt werden.

Schnell ausgetrocknet

So richtig "grün" ist die Wasserenergie nicht, wie vor allem die türkischen Landwirte schnell gesehen haben. Achteinhalb Kilometer des Ikizdere-Flusses - ebenfalls in der Provinz Rize - sind ausgetrocknet, als 2010 ein neues Kraftwerk in Betrieb ging. Dieselbe Erfahrung, nur in noch weit größerem Ausmaß, werden die Anwohner des Ilisu-Staudamms in Südostanatolien machen, so sagen Umweltschützer voraus. Dort geht das umstrittenste Großprojekt eines Wasserkraftwerks seiner Vollendung entgegen. Zu den befürchteten irreparablen Schäden des Agrarlands kommen zwei andere gewichtige Probleme: Die kulturhistorisch bedeutende Seldschukenstadt Hasankeyf am Tigris wird geflutet und versinkt in einem Stausee, zusammen mit 200 kleineren Städten und Dörfern; politisch werden dieses Projekt und 21 weitere Dämme am Oberlauf von Euphrat und Tigris in Anatolien das Verhältnis zu den Nachbarländern Irak und Syrien noch verschlechtern - ihnen geht das Wasser aus.

Andritz in der Kritik

Den Tigris in der Türkei haben die Bauingenieure 2012 schon aus seinem Bett geleitet. Dieses Jahr noch soll der Ilisu-Staudamm fertig werden. Der österreichische Turbinenhersteller Andritz steht wegen seiner Beteiligung am Projekt schwer in der Kritik. Andritz' Verteidigungslinie: Die Türkei braucht Strom, und Wasserenergie ist besser, als Atomkraftwerke zu bauen (drei hat die türkische Regierung mittlerweile in Planung); wäre Andritz nicht bei dem Projekt geblieben, nachdem Österreich, die Schweiz und Deutschland ihre Exportkreditversicherungen aus Umweltbedenken zurückgezogen hatten, wäre eben ein anderer Turbinenhersteller eingesprungen.

Made in Turkey

Bei ihrer Politik des Wasserkraftausbaus will die türkische Regierung keinesfalls Abstriche machen. Die hohen Kosten für Öl- und Gasimporte aus Russland und dem Iran belasten die Wirtschaft. Temsan, ein staatliches Elektrotechnikunternehmen, hat dieser Tage verkündet, dass die Türkei nun in der Lage sei, selbst alle Bestandteile von Wasserkraftwerken zu bauen. Bisher haben neben Andritz auch andere österreichische Unternehmen vom Boom der Wasserkraftwerke profitiert - Voith, Strabag, Verbund. Der Kampf von "Bürger Kasim" und seinen Mitstreitern gegen Bürgermeister und Konzerne wird allerdings weitergehen. "Dieses Land gehört uns, nicht ihnen", sagt er. (Markus Bernath, DER STANDARD, 22.3.2014)