Familientherapeut, Autor und derStandard.at-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

Foto: Family Lab

Frage:

Heute sind meine Tochter (sechseinhalb Jahre) und ihre beiden Schulfreundinnen (A und B) mit mir im Auto mitgefahren. Dabei habe ich folgendes Gespräch mitgehört, das mein Herz schneller schlagen ließ:

Die eine Freundin (A) sagt stolz: "Zu meinem Geburtstag mache ich eine Pyjamaparty und eine andere Party, und du bist eingeladen" (zu meiner Tochter).

Meine Tochter: "Lädst du nicht auch B ein?"

A: "Nein. Zur Pyjamaparty lade ich nur zwei ein - dich und ..." (hier fängt mein Herz zu klopfen an).

Meine Tochter: "Ja, aber musst du davon reden, wenn B jetzt da ist?" (mich macht das jetzt stolz, dass meine Tochter sich so in Bs Situation hineinversetzen kann).

A: "Ja, aber sie kommt ja zur anderen Party mit."

Meine Tochter: "Ja, aber ich habe keine Lust, bei dir zu übernachten, weil ..." (mein Herz zieht sich zusammen).

A: "Okay. Aber dann kann ich ja B einladen."

B: "Ich mag auch nicht bei dir übernachten, und zu deiner Party mag ich auch nicht kommen, weil ..."

Und dann ist die Autofahrt beendet - wir sind angekommen.

Hunderte von Gedanken und Gefühlen fliegen mir während dieser Autofahrt durch den Kopf. Ich weiß, es hätte mir richtig wehgetan, wenn ein anderer Erwachsener meine Einladung auf dieser Art und Weise abgelehnt hätte. Ist es denn auch für Kinder untereinander so? Die Kinder sprechen die Dinge direkt an und halten damit so etwas vielleicht besser aus als wir Erwachsene. Während der Fahrt habe ich gedacht: "Soll ich jetzt etwas sagen und, vor allem, was?" Ich habe einerseits mit A mitgefühlt. Sie hat meiner Tochter gegenüber mit der Einladung zum Übernachten wirklich Vertrauen gezeigt. Andererseits hat die Antwort meiner Tochter etwas Gutes und Ehrliches. Ich hatte auch Mitgefühl für B, die nicht zum Übernachten eingeladen wurde. 

Inwieweit sollen wir Erwachsenen uns in die Beziehungen zwischen Kindern einmischen? Ist eine solche Situation eine wichtige Erfahrung in der sozialen Entwicklung der Kinder? Wann sollen wir eingreifen, um zu helfen? Wie gehen wir mit der Ehrlichkeit der Kinder um? Vertragen Kinder mehr Ehrlichkeit als wir Erwachsene?

Jesper Juul antwortet:

Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie Kinder uns Erwachsene inspirieren und unsere Normen und sozialen Spielregeln in Frage stellen. Kurz gesagt können Sie als Elternteil zwei Wege gehen: Entweder gehen Sie den erziehenden und/oder moralisierenden Weg, oder sie wählen den fragestellenden und beziehungsaufbauenden Weg.

Beziehung statt Erziehung

Den ersten Weg kennen wir alle. Wenn wir diesen gehen, fühlen sich die Kinder "falsch" - ganz unabhängig davon, wie nett und pädagogisch die Botschaft vermittelt wird - und die Erwachsenen "richtig". Ende der Geschichte.

Ich empfehle den anderen, beziehungsaufbauenden Weg. Das bedeutet in der Praxis, dass Sie einige Stunden später zu Ihrer Tochter beispielsweise sagen: "Erinnerst du dich an das Gespräch, das du mit deinen Freundinnen auf dem Heimweg im Auto hattest? Da ging es doch darum, wer zur Party eingeladen war und wer nicht. Obwohl ich ja Ehrlichkeit für ganz wichtig halte, war ich ein bisschen schockiert, als ich mitbekommen habe, wie ehrlich ihr zueinander wart. Ich frage mich, ob ihr euch gegenseitig verletzt habt, aber ich weiß es nicht recht. Ich weiß nur, dass es mich verletzt hätte. Wie war es für dich?" Diese Fragen können zu einem spannenden Dialog zwischen Mutter und Tochter führen, in dem beide einander besser kennenlernen. Der Dialog wird auch ganz sicher bewirken, dass Ihre Tochter über ihre Beziehung zu ihren Freundinnen zu philosophieren beginnt.

Vielleicht hat die Aussage der Freundin auch Ihre Tochter verletzt - oder sie hat das Gefühl, dass die Freundinnen sich gegenseitig verletzt haben. Dieses Gespräch eröffnet Ihnen die Möglichkeit, Ihre Erfahrungen und Werte mit ihrer Tochter zu teilen. Sowohl Kinder als auch Jugendliche brauchen stets die Inspiration der Erwachsenen, um über ihr eigenes Verhalten und eigene Meinungen nachdenken und reflektieren zu können. Sie brauchen ganz selten Richter. Kritik und Verbote lähmen, wohingegen gleichwürdige Dialoge aktivieren und das Gehirn entwickeln.

Die persönliche und die soziale Sprache

Generell gesehen ist es so, dass eine verbale Botschaft erst wirklich verstanden werden kann, wenn wir auch den Tonfall und die Körpersprache dazu kennen. Die drei Mädchen im Auto scheinen miteinander so "cool" gewesen zu sein, dass sie einander ganz ohne Wut und Scham mit Tatsachen konfrontieren konnten.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich allen Eltern dieser drei Mädchen mein Kompliment dafür aussprechen, dass es ihnen die gelungen ist, ihren Kindern die Entwicklung ihrer persönlichen Sprache zu ermöglichen. In weiterer Folge lernen wir immer mehr die soziale Sprache dazu. Diese kann vielleicht als oberflächlich bezeichnet werden, allerdings hilft sie uns dabei, unsere eigenen Grenzen und die von anderen zu schützen. Es ist sehr wertvoll, neben der persönlichen Sprache auch über die soziale Sprache zu verfügen. Kinder lernen sie am besten und am schnellsten, wenn sie Erwachsene untereinander beobachten, so sie die Möglichkeit dazu haben.

Erwachsene haben oft das Bedürfnis, den Kindern beizubringen, wie sie "nett" miteinander reden. Das fördert selten den Lernprozess der Kinder. Die wichtigste Ursache dafür ist wahrscheinlich, dass Belehrung und Kritik durch die Erwachsenen eben nicht "nett" sind, und genau dieses Verhalten macht sie unglaubwürdig.

Authentisch sein

Sich ausgeschlossen zu fühlen, oder auch nur die Angst davor, sitzt tief in vielen von uns. Deswegen wollen wir auch unsere Kinder davor schützen. Es ist in vielerlei Hinsicht ein schöner Gedanke, der sich aber nur auf einer oberflächlichen und sozialen Ebene abspielt - also in der Beziehung zu Menschen, die uns nicht speziell wichtig sind. In Freundschaften und Liebesbeziehungen funktioniert es auf Dauer nicht, immer "nett" zu sein. Hier müssen wir früher oder später lernen, uns zu zeigen und auch in kleinen Dingen Nein zu sagen, wenn wir nicht wollen, dass die Beziehung in die Brüche geht oder zur totalen Selbstverleugnung führt.

Grenzen wahren

Ehrlichkeit als meine authentische Aussage über mich selbst ist für meine persönlichen Beziehungen immer konstruktiv. Ehrlichkeit hingegen als meine Meinung über "dich" ist fast nie wirklich ehrlich. Wenn wir ab und zu in Bezug auf unsere Gefühle und Meinungen über andere Menschen ehrlich sein müssen, sollte die Ehrlichkeit immer mit der Liebe Hand in Hand gehen.

In diesem Punkt brauchen Kinder Inspiration und Begleitung von Erwachsenen. Kinder sollten lernen, über ihre eigenen Gedanken, Gefühle, Erlebnisse und Werte zu sprechen, statt über die anderer Menschen. Dieses Lernen fängt zum Beispiel an, wenn die Tochter der Nachbarn anläutet und Ihre Tochter fragt, ob sie mit ihr spielen mag. Wenn Sie merken, dass Ihre Tochter Ja sagt, aber Nein meint, braucht sie Ihre Hilfe, um herauszufinden, wie sie am besten ihre eigene Bedürfnisse und Grenzen wahren kann, ohne den anderen zu kränken oder zu verletzen.

Das ist eine Kunst, die nur wenige von uns Erwachsenen beherrschen. Deshalb entscheiden wir uns oft für die einfachste Lösung: Wir lehren Kinder, auf eine "nette" Art (also unantastbar) zu lügen. Das verletzt den anderen natürlich auch, aber wir haben dabei ein gutes Alibi, und nach vielen Jahren Praxis verschwindet der bittere Beigeschmack - fast! (Jesper Juul, derStandard.at, 23.3.2014)