Wien - Das Wiener Schauspielhaus beschäftigt seit Saisonbeginn den Hausautor Philipp Weiss (32). Zu den vielen Vorteilen der Hausautorschaft gehört die autonome Verfügung über die Zeit. Weiss saß nicht etwa ganze Tage untätig im Dramaturgiebüro herum. Er fuhr nach Simmering, genauer gesagt: Er besuchte dort die Flüchtlingssiedlung Macondo.
Im Programmheft zum Stück Allerwelt umschreibt Weiss die relativ komfortable Benützung der Linien U3 und 71 mit dem "Aufsuchen realer Orte", der "Begegnung mit Menschen". Weiss reiste, so sagt er, "mit Taschen voller Fragen im Gepäck". Was auch immer die Simmeringer über sein Handgepäck gesagt haben: Er muss die Heimreise in die ferne Porzellangasse mit Taschen voller Phrasen im Gepäck angetreten haben.
Allerwelt ist die Frucht der Expedition in das finstere Herz des elften Hiebes. In dessen Wildnis will es Weiss einen Monat lang ausgehalten haben. Zurückgekehrt ist er mit einem Stück aus 104 kurzen und kürzesten Szenen. Eine mysteriöse junge Dame namens Mila Katz (Nicola Kirsch) betritt das ehemalige Kasernengrundstück Macondo. Allerwelt ist ein poetisches Reservat voller Außenseiterfiguren.
Mila, diese entfernte Schwester der Wunderland-Alice, entert die Schauspielhaus-Bühne von vorn. Sie hat nicht nur kindliche Zöpfe, sondern auch infantile Anwandlungen. Ein geheimnisvoller Wohnwürfel dreht sich (Ausstattung: Janina Audick), während das Kind, das verzweifelt nach seiner Herkunft forscht, Sternenstaub streut. Menschen ohne besondere Kennzeichen mimen den Schmetterlingsflug, oder es zucken die Glieder im Maschinentakt der Band Portishead.
Mila begegnet Flüchtlingen aus Ungarn, Somalia, der Türkei, aus der vormaligen Tschechoslowakei und aus Chile. Regisseur Pedro Martins Beja behandelt die Poesie-Aufschwünge des Textes wie einen Botho Strauß aus dem dramatischen Brühwürfelfach. Reihum berichtet jeder Flüchtling, was ihm zugestoßen ist. Jede Person kocht ihr Süppchen. Die wunderbare Katja Jung sitzt als Tereza wie eine tschechische Carmen im knisternden Abendkleid an der Holzhüttenwand. Ein ungarischer Alkoholiker (Steffen Höld) macht sich an seiner Kiste Bier zu schaffen. Weiss würfelt die Identitätssplitter durcheinander. Haben sich die Teilchen gesetzt, bleibt fades Wasser zurück. Ein klarer Fall von Migrationskitsch. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 22./23.3.2014)