Zumeist bewohnen Kinder und Jugendliche in den WGs des Vereins Oase ein kleines Einzelzimmer. Viele haben tieftraurige Familienschicksale hinter sich. Sie werden von Betreuern zu einem möglichst eigenständigen Leben erzogen. 

Foto: Standard/Corn

Weil verstörte Jugendliche Emotionen oft erst steuern lernen müssen, ist Aggression ein großes Thema.

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Wien - Von der einen auf die andere Sekunde ist alles anders. Ein gellender Schrei pfeift durch den Wohnblock. Die Lautstärke der Musikanlage wird auf Anschlag hochgefahren, es hämmert, es rumst, Türen schlagen krachend zu. Noch ein Schrei, dumpfes Stimmengewirr. Die Atmosphäre wirkt gespannt. Zwei Sozialpädagogen sitzen vor der offenen Tür, aus der der Lärm dringt, und sind die Ruhe in Person. "Vielleicht ist es für dich jetzt keine gute Idee, da durchzugehen", sagt eine Betreuerin zum Besucher. "Stefan* ist ziemlich aufgebracht. Deine Anwesenheit könnte ihn zusätzlich aggressiv machen."

Stefan (16) wohnt in einer sozialpsychiatrischen Wohngemeinschaft im fünften Bezirk in Wien. Er lebt mit fünf Jugendlichen zusammen. Was Stefan aufgebracht hat - die Betreuer können es nicht genau sagen. Im kahlen Gemeinschaftsraum, in dem Stefan auszuckt, steht nicht ohne Grund einzig ein altes Sofa. "Als wir diese WG eröffnet haben, war der Raum schön eingerichtet, sogar ein Fernseher stand da", sagt Walter Eichmann. Der Fernseher überlebte keine Woche.

Eichmann ist Leiter des Vereins Oase, der sich der "Unterbringung und Betreuung entwicklungsgefährdeter Kinder und Jugendlicher" verschrieben hat. Der 1997 gegründete private Verein, der fast ausschließlich von der Stadt Wien finanziert wird, betreut in Wohngemeinschaften mittlerweile 71 Kinder und Jugendliche. Diese können aus den verschiedensten Gründen temporär oder auch längerfristig nicht bei ihren Eltern leben. Überforderung bei der Erziehung, Scheidung oder ein Todesfall sind drei davon. Alkoholismus, Vernachlässigung oder (sexuelle) Gewalt sind andere.

Wenn Eichmann Einblick in die Lebensgeschichten der Kinder gibt, taucht man auch ein in menschliche Abgründe und tieftraurige Schicksale. Auch wenn das primäre Ziel des Vereins Oase ist, stabilisierte Kinder wieder in die gewohnte familiäre Umgebung zu entlassen, so gibt es in vielen Fällen berechtigte Gründe, es nicht zu tun.

Wert der Menschenrechte

Die zwei sozialpsychiatrischen WGs des Vereins sind die betreuungsintensivsten. Auf zwölf schwierige Jugendliche, die allesamt bereits in Kinder- und Jugendpsychiatrien behandelt wurden, kommen 21 Betreuer. Darunter sind Sozialpädagogen, aber auch psychiatrische Betreuer und Krankenpfleger. Diese versuchen, die Jugendlichen mit einer Tagesstruktur und in Gesprächen und Therapien bestmöglich auf das "Leben da draußen" vorzubereiten. Denn mit der Volljährigkeit ist auch die Rund-um-die-Uhr-Betreuung im Verein, sofern sie notwendig ist, vorbei.

"Natürlich ginge es billiger", sagt Eichmann dem STANDARD. "Eine geschlossene Anstalt oder jahrelange Aufenthalte in Psychiatrien wären Alternativen. Die Frage ist, was unserer Gesellschaft Menschenrechte wert sind."

Der Aggressionsausbruch von Stefan ist längst kein Einzelfall in der Wiener Wohnung. Betreuer erzählen von Suizidversuchen und schweren Selbstverletzungen, als wäre es fast tägliche Routine. Der Umgang mit dominantem Sexualverhalten ist genauso Thema wie Drogenmissbrauch. Oft entlädt sich Gewalt und Aggression auch gegen Sozialpädagogen.

"Defizite, die die Kinder bei den Eltern erfahren haben, projizieren sie auf uns", erzählt ein Pädagoge. Vor ein paar Tagen wurde einem Betreuer fast das Nasenbein gebrochen. Ein Großaufgebot der Wega musste ausrücken. "Den Weg zur Wohnung kennen Polizei und Rettung recht gut", sagt Eichmann.

Dennoch schätzen Betreuer, die selbst nach derartigen Erlebnissen wieder in die Arbeit zurückkehren, auch die Erfolge. Wenn die in sich gekehrte Sandra am Gruppenleben teilnimmt, für alle kocht - und sich die WG bei ihr bedankt. Oder wenn Jugendliche fähig werden, Ordnung innerhalb und Termine außerhalb der Wohnung einzuhalten.

"Aber wir machen uns keine Illusionen", sagt Eichmann. "Es gibt Störungen, die in der WG nicht behebbar sind. Die Kinder sind das Produkt ihrer Lebens- und Umweltbedingungen. Kinder, die in glücklichen Familiensituationen aufwachsen, kommen nur in den seltensten Fällen zu uns."

Eigenständiges Leben

Auch am Währinger Gürtel ein paar Kilometer weiter wohnen Kinder mit schwierigem familiärem Background mit Sozialpädagogen des Vereins Oase zusammen. Bis zu acht sind es pro Wohngemeinschaft. Die Jüngsten sind fünf Jahre alt. Ältere Jugendliche, die ein weitgehend stabilisiertes Leben führen, werden im betreuten Wohnen auf ein eigenständiges Leben als Erwachsene vorbereitet.

Auch hier erleben Kinder und Betreuer soziale Dramen. "Wir versuchen, Eltern am Leben ihrer Kinder teilhaben zu lassen", sagt Andree Vollmers, der pädagogische Leiter des Vereins und seit 13 Jahren bei der Oase. "Mitunter erleben wir Eltern aber als nicht verlässlich." Schnell sind behutsam aufgebaute Entwicklungsschritte des Kindes wieder zerstört.

Trotz oft schwieriger Kindheit legen Jugendliche, die in der WG wohnen, aber auch erfolgreiche Karrieren in der Schule oder in der Lehre hin. Eine Jugendliche, die einen strukturierten Tagesablauf verweigerte, immer wieder ausbüchste und einmal aus Barcelona rückgeführt werden musste, macht eine Lehre zur Immobilienkauffrau. Eichmann: "Für die Betreuer ist das dann die Belohnung ihrer Arbeit." (David Krutzler, DER STANDARD, 22.3.2014)