"Fleck, Tuschzeichnungsversuche und blaue Linien" ist dieses Blatt von Literat und Zeichner Victor Hugo (1802 - 1885) beschrieben: Moderne Ästhethik in einer Studie (8 x 24 cm) des 19. Jahrhunderts.

Foto: Kunsthalle krems

"Satyr" (undatiert, 25,9 x 20, 1 cm), eine lavierte Federzeichnung von Taddeo Zuccaro (1529 - 1566).

Foto: Kunsthalle Krems/Sammlung Klüser

Der "Zentaur" (undatiert, 18,5 x 27,3 cm) von Barockmaler Giovanni Domenico Tiepolo (1727 - 1804) wurde mit Kreide und Feder gezeichnet. 

Foto: Kunsthalle Krems/Sammlung Klüser

Bleistiftzeichnung "Nature morte à la bouteille" (1951, 50 x 33,5 cm) von Alberto Giacometti (1901 - 1966).

Foto: Kunsthalle Krems/Sammlung Klüser

Aquarell und Tusche auf Papier: "I pensieri arrivano ancora" (1983, 33 x 23,2 cm) von Enzo Cucchi (geb. 1949) 

Foto: Kunsthalle Krems/Sammlung Klüser

Krems - Nur 7,7 mal 5,9 Zentimeter misst das fünfhundert Jahre alte Stück Papier. Seine ausgefransten Ränder sind geschwärzt. Unruhige Kreidestriche liegen über der braunen Tuschfederzeichnung einer alten Frau. Ihr Gesicht hat der Italiener Parmigianino als ein von Schmerz und Leid verzerrtes dargestellt.

Ein winziges Blatt, das bereits am Anfang der Ausstellung sehr unmittelbar am Besucher vollzieht, was Sammler Bernd Klüser als ein "auf Zeichnung zugehen müssen" bezeichnet. Der Zauber der papierenen Kostbarkeiten erschließt sich nicht im raschen Taxieren. Und: "Zeichnungen verkörpern als Oasen eine kontemplative Gegenwelt." So tritt man also nahe heran, bemerkt, dass nicht einmal ein Glas die Altmeister-Skizze schützt, und wird so mit jedem Detail, jedem identifizierten Strich der Feder sensibler.

Faszinierender Schwebezustand

Genauer gesagt bestreitet Parmigianino im Duett mit dem Blatt eines Perugino-Nachfolgers (um 1500) den Auftakt zur Schau Zurück in die Zukunft. Zeichnung von Tiepolo bis Warhol in der Kunsthalle Krems: Es zeigt das fein ausgearbeitete Gesicht einer jungen Frau; der nachdenkliche Ausdruck interessiert den Künstler, der Rest, Gestalt und Gewand, löst sich daher im Nichts auf. Vorweggenommen auch hier ein wesentliches Charakteristikum der präsentierten Kollektion: das Nonfinito. Als spannenden Schwebezustand umschreiben Bernd und Verena Klüser ihre Faszination am Fragmentarischen der Zeichnung. Ein Interesse, das nicht an Epochengrenzen haltmacht: Ende der 1990er-Jahre begann das Paar - sie Kunsthistorikerin, er Galerist - in der Zeit zurückzuspringen, und ihren Zeitgenossen quasi Ahnen zu suchen.

Und tatsächlich entspinnt sich quer durch fünf Jahrhunderte ein Dialog: So etwa bei Palma il Giovane (1548-1628), dessen Tempelszene sich in vibrierende Liniennetze auflöst; die Bewegtheit scheint die mehr als dreihundert Jahre jüngeren Arbeiten Alberto Giacomettis vorwegzunehmen. Dass sich die künstlerischen Mittel der Zeichnung kaum verändert haben, erleichtert Vergleiche.

Progressive alte Meister

Sind es bei den Zeitgenossen jene, die die Tradition der Zeichnung hochhalten (z. B.: Jorinde Voigt), so faszinieren die Klüsers bei den Alten Meistern die Progressiven, moderne Ästhetiken Vorwegnehmenden: eine Gegenläufigkeit, die sich im Titel Zurück in die Zukunft widerspiegelt.

Und tatsächlich steht man völlig baff vor den radikal zurückgenommenen Kompositionen Victor Hugos (um 1802) oder der erst Anfang Februar erworbenen Studie William Turners (siehe Interview). Man bewundert die extremen Licht-Schatten-Kontraste in der lavierten Federzeichnung von Luca Cambiaso (16. Jhdt.), die irgendwie an den Surrealisten Giorgio de Chirico erinnern. Man genießt die Energie in den Linienwäldern von Rousseau (1834/35) und das expressive Stricheln von Louis Soutter (20. Jhdt.).

Bemerkungen zu einer Pflanze hat Paul Klee seine zum rudimentären Ornament stilisierte Blume genannt. Nickend bestätigt man das Ausrufezeichen dahinter und denkt daran, dass Klee über Kunst gesagt hat, sie gebe niemals Sichtbares wieder, sondern mache sichtbar. Es ist also nie das "Was", sondern immer das "Wie", das Zeichnung ausmacht.

Überzeugend gesetzte Flirts und die innere Logik der Ausstellung machen überdies selbst die Masse von 250 Arbeiten gut verdaulich: So bandelt etwa eine Tänzerin von Rodin mit Frauenfiguren von Beuys an. Picasso, Matisse und Léger huldigen in einer kleinen kapellenartigen Nische der schönen Linie.

"Eine Zeichnungsausstellung ist keine große Oper, sondern eher ein Kammerkonzert", sagt Bernd Klüser. Stimmt. Manchmal sind den leidenschaftlich-hochtrabenden Dramen eben lehrreiche Spaziergänge vorzuziehen. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 22.3.2014, Langfassung)