Wie familienfreundlich ist Österreich? Oft werden Kinder ausschließlich als Lärmquellen wahrgenommen.

Foto: Katsey

Zum Weinen: Gerade bei der Vereinbarkeit von beruf und Familie klafft eine große Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit.

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Ein Hotel, das grundsätzlich keine Kinder als Gäste aufnimmt. Ein Lokal, das Kinderwägen verbannt. Und ein Bundesland, das sich genötigt fühlt, per Gesetz darauf hinzuweisen, dass Kindergeschrei kein "umweltschädlicher" Lärm ist. Wie familienfreundlich ist Österreich? Ljiljana Kojic macht als sogenannte Wohnpartnerin jeden Tag den Alltagstest. Ihr Arbeitsplatz: die Wohnhausanlagen der Gemeinde Wien. Ihre Aufgabe: Streit schlichten. "Wir sind viel in den Gemeindebauten unterwegs, da bekommt man natürlich einiges mit", sagt die professionelle Streitschlichterin. Im Falle von Kindern heißt das: Ärger über Lärm. "Es gibt oft Interessenkonflikte zwischen Kindern, die laufen und herumtollen, und Erwachsenen, die ein Ruhebedürfnis haben", sagt Kojic. Eine Generallösung kann sie nicht bieten, jeder Streitfall sei anders gelagert.

Kernfamilie im Fokus

Kojic erlebt Alltagsgeschichten, denen Ulrike Zartler auf der Spur ist. Die Soziologin der Universität Wien forscht zum Thema Familie. Ihr Eindruck: "Die Menschen sind nach wie vor sehr freundlich gestimmt, wenn es um die Kernfamilie geht." Soziologisch erkläre sich das daraus, dass "auf der Einstellungsebene zwar auch andere Familienformen akzeptiert werden. Nur findet eine Hierarchisierung statt: Und hier wird die Kernfamilie Mutter-Vater-Kind(er) nach wie vor idealisiert." Die Folge davon: Vor allem Alleinerzieherinnen "sind in vielen Bereichen benachteiligt, da hört sich die Familienfreundlichkeit rasch auf". Zartler verweist etwa darauf, dass diese Familien ein mehr als doppelt so hohes Armutsgefährdungsrisiko haben als der Durchschnitt der Bevölkerung. Besonders das viel zu geringe Angebot an Kinderbetreuungsplätzen treffe Alleinerziehende besonders stark. Und ihr Image? Zartler: "Bei Tiefeninterviews hat sich gezeigt, dass Alleinerziehenden gewisse Mankos unterstellt werden und die Vorstellung des 'Scheiterns' mitschwingt."

Um die Familienfreundlichkeit im Land direkt messen zu können, fehlt es an den Instrumenten, klagt Wolfgang Mazal, Leiter des Instituts für Familienforschung. "Es gibt dafür keine validen Indikatoren", sagt er. Mazal nennt als "Splitter" etwa Oberösterreich, das - wie schon erwähnt - die fehlende Umweltschädlichkeit von Kinderlärm in einem Gesetz festgeschrieben hat. "Dankenswerterweise", betont Mazal, "aber: Allein, dass so etwas festgelegt werden muss, ist schon ein Zeichen. Auch Kindererziehungszeiten werden in den Gehaltssystemen meist nicht angerechnet - als ob man dabei verblöden würde."

Falscher Blickwinkel

Oft würden Gesetze oder Regelungen erlassen, "ohne auf den Blickwinkel von Familien zu achten - und müssen dann repariert werden", ärgert sich Mazal. Ein Beispiel sei die Arbeitszeit, denn "da ist der Ruf nach Flexibilität groß, und dabei wird vergessen, dass Familien auch Stabilität brauchen". Gerade bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie klaffe eine große Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit, sagt auch Soziologin Zartler. "Familie wird in den Zeitlücken der Erwerbsarbeit gelebt. Dort werden die Anforderungen statt weniger immer mehr, man soll etwa ständig verfügbar sein, was sich dank der Smartphones noch verstärkt." Was meist bei der Vereinbarkeitsdebatte vergessen werde: "Was Kinder sich wünschen könnten, findet keinen Platz in der Diskussion. Die Flexibilität am Arbeitsplatz mutet Kindern ja auch viel zu."

Wertvolle Kinder

Und dann ist da noch die verschobene Alterspyramide. "Kinder stellen nur mehr eine relativ kleine Bevölkerungsgruppe dar", sagt die Soziologin. Man könnte zwar argumentieren, dass "dies Kinder wertvoller macht. Das mag in den einzelnen Familien zutreffen, generell in der Gesellschaft aber nicht." Vor einigen Jahrzehnten hätten Kinder sich noch in viel größeren Räumen bewegt, "heute gibt es Spielplatzenklaven, und wir sprechen von einer Verinselung der Kindheit: Kinder werden in die eigens für sie geschaffenen Zonen transportiert" - also etwa auch in den Kindergarten, die Kindergruppe. Die Folge sei, dass Kinder, die sich dann außerhalb dieser Zonen bewegen, keine Selbstverständlichkeit mehr sind: "Kinder sind daher im Alltag weniger präsent, es gibt tendenziell eine Art Unsichtbarkeit. Dadurch sinkt das Verständnis in der Gesellschaft dafür, wie Kinder sind und sich verhalten. Man ist es nicht gewöhnt. Wer nie Kindergeschrei hört, findet es dann umso lauter, wenn plötzlich doch ein Kind brüllt." Eine Veränderung zum Besseren ist derzeit kaum zu erwarten. Die demografische Entwicklung lasse erahnen, dass "sich die Entwicklung noch weiter zuungunsten der Kinder verschieben wird. Es müssen dringend neue Modelle der Generationenbeziehung gefunden werden."

Konfliktmanagement für Kinder

Darauf setzt auch die Wiener Wohnpartnerin Ljiljana Kojic. Wenn bei den alten Mietern nichts mehr geht, sollen zumindest die Mieter der Zukunft besser vorbereitet sein: In einer Volksschule im größten Gemeindebau von Wien-Liesing, "Wiener Flur", wird Konfliktmanagement unterrichtet, denn: "Das sind die Kinder, die wir ja im Hof oder am Spielplatz treffen. Und in einigen Jahren bekommt der Gemeindebau junge Mieter, die wissen, wie man Streitigkeiten richtig löst." (Peter Mayr, DER STANDARD, 29.3.2014)