Würde man Präsident Putins Neuauflage einer "Heim ins Reich"-Ausrede für die Annexion der Krim zum Prinzip erheben und als solches akzeptieren, dann bliebe angesichts seiner Geschichtsträchtigkeit gerade in Europa kaum ein Grenzstein auf seinem Platz.

In seiner Rede vor dem russischen Parlament (vom 18. März) begründete er nämlich die unverfrorene gewaltsame (wenn auch unblutige) Verletzung der ukrainischen Souveränität durch die Russische Föderation mit der Notwendigkeit, den historischen Fehler, wie er es nennt, der Einverleibung der Krim in die Ukraine (1954) korrigieren zu müssen.

Natürlich geht es bei Grenzziehungen immer wieder auch um Aus- oder Ein grenzungen, deren Bewertung sich im Zeitenlauf des öffentlichen Bewusstseins zum Guten oder zum Schlechten wandelt. Natürlich sind Grenzen nicht in Stein gemeißelt, sondern grundsätzlich variabel - aber nur im Einvernehmen aller betroffenen Staaten. Einseitige Aktionen verletzen die staatliche Souveränität, gefährden die Stabilität des Staatensystems und bilden daher geradezu den Urtyp eines völkerrechtlichen Deliktes.

Ein solches gilt es anzuprangern. Unglücklicherweise hat sich aber die (hier pauschal) westliche Argumentation auf die angebliche Völkerrechtswidrigkeit der auf der Krim von der autonomen Regionalregierung angesetzten Volksabstimmung konzentriert.

Unglücklicherweise deswegen, weil völkerrechtlich gesehen jeder Staat das Recht hat, seine Bürgerinnen und Bürger zu beliebigen - auch sezessionistischen - Themen zu Volksabstimmungen zu den Urnen zu rufen. Das gehört zu seiner ihm nach allgemeinem Völkerrecht zustehenden Souveränität, sofern er dadurch nicht in bestehende Rechte anderer Völkerrechtssubjekte welcher Art immer eingreift. Das bedeutet, dass die Volksabstimmung vom 16. März nicht primär nach Völkerrecht, sondern nach ukrainischem Verfassungsrecht und nach der Autonomieverfassung für die Krim zu beurteilen ist.

Der Umstand, dass die Volksabstimmung unter Zwang abgehalten wurde, entwertet sie, aber verbietet sie nicht. Kurzum, eine völkerrechtliche Grundlage für ein Verbot dieser Volksabstimmung war und ist nicht erkennbar. Ein solches gäbe es nur im Kriegsfall in Form des, verkürzt gesagt, Verbotes des Eingriffes in das Sozialgefüge eines besetzten Gebietes durch die Besatzungsmacht.

Das wissen natürlich auch die Völkerrechts- und Strategie-Gurus im russischen Außenamt. Daher scheint es, als hätte sich die russische Diplomatie geradezu genüsslich auf die Diskussion der Zulässigkeit der Volksabstimmung vom 16. März eingelassen. Denn dadurch wurde und wird die eigentliche Verwerflichkeit der russischen Ukraine-Politik, nämlich die manifeste Verletzung der Souveränität der Ukraine durch russische Truppen, vernebelt.

Was völkerrechtlich zählt, ist das Einsickern mehrerer tausend russischer Soldaten unterschiedlicher Gliederungen, das Zernieren und schließlich das Verjagen der auf der Krim stationierten regulären ukrainischen Truppen sowie die Besetzung aller nennenswerten Flugplätze etc. All das sind hoheitliche, der Russischen Föderation zuzurechnende Aggressionsakte gegen den Souverän der Krim, nämlich die Ukraine, auch wenn sie bis jetzt im Wesentlichen unblutig verlaufen.

Das sind wichtige Tatbestandsmerkmale auch des völkerrechtlichen Kriegsbegriffes. Seine Verwirklichung setzt nämlich rechtlich keineswegs Tod und Verderben voraus. Freilich gehören dazu noch andere Elemente wie Abbruch diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen und noch anderes mehr wie etwa die Bereitschaft der Betroffenen, Ereignisse dieser Art auch als Krieg qualifizieren zu wollen. Die Planer der allseits angesprochenen Sanktionen gegen die Russische Föderation sollten jedenfalls wissen, in welch heiklem Argumentationsfeld sie sich bewegen.

Was bleibt zu tun? Der Westen (hier wieder pauschal) ist in Zugzwang. Jetzt, im Nachhinein, macht es wenig Sinn, die ohnehin mehr als angespannte Situation durch Strafmaßnahmen noch mehr aufzuheizen. Der Anschluss der Krim an die Russische Föderation ist ein Faktum.

Für Absurditäten wie die ausgerechnet vom Erweiterungskommissar vorgeschlagene sofortige Aufnahme der Ukraine in die EU ist jetzt kein Platz mehr. Der nicht viel bessere von der deutschen Kanzlerin sekundierte Vorschlag des polnischen Premiers, den politischen Teil des vorerst gescheiterten Assoziierungsabkommens als gesondertes Abkommen ohne den wirtschaftlichen Teil mit der Ukraine zu unterzeichnen, wird gerade umgesetzt. Darin geht es aber nicht nur um einen plakativen demokratie- und grundrechtspolitischen Cocktail. Vielmehr finden sich darin an mehreren Stellen durchaus substanzielle Hinweise auf eine strukturierte Einbeziehung der Ukraine in die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Das könnte genau jenes Wasser sein, welches Putin noch auf der Mühle einer anderen seiner Ausreden fehlt, nämlich seiner Sorge um einen allfälligen Nato-Beitritt der Ukraine.

Wir bewegen uns auf sehr dünnem Eis. Schmollen und oberlehrerhaftes Sanktionieren bringt nichts. Wir brauchen eine Kontaktoffensive, als Nährboden für gemeinsames Suchen, mit anschließendem Finden allseits verträglicher Lösungen. (Manfred Rotter, DER STANDARD, 25.3.2014)