Wien - In der modernen Augenheilkunde stehen Ärzte mitunter vor einem Problem: Aus einer Flut an Informationen, die durch verschiedene Untersuchungsmöglichkeiten zustande kommt, müssen die essenziellen Daten für die Diagnose herausgeholt werden. Der Mathematiker Martin Ehler will nun helfen, den Blick auf das Wesentliche zu lenken.
Sein mit 1,5 Millionen Euro dotiertes Projekt des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) soll Augenärzten in Zukunft das Leben erleichtern. Er will Algorithmen entwickeln, die helfen, Erkrankungen der Netzhaut früher zu erkennen und Veränderungen im Auge besser zu quantifizieren.
Erfahrung darin, seine mathematischen Methoden auf medizinische Problemstellungen anzuwenden, hat der gebürtige Deutsche bereits gesammelt. Drei Jahre lang hat er an den National Institutes of Health in Maryland schon an der Analyse von Netzhautbildern gearbeitet.
Dass er Mathematik nicht nur theoretisch betreiben, sondern auch in der Praxis anwenden will, ist ihm seit langem klar. "Innerhalb der angewandten Mathematik kommt man oft gar nicht bis zur konkreten Anwendung in anderen Fachrichtungen. Ich wollte nach meinem Studium aber richtige, echte Anwendungen sehen." Nach einem zweijährigen Aufenthalt in München hatte Ehler auch schon überlegt, nach Amerika zurückzugehen, als er auf einen Call des WWTF aufmerksam wurde, der interdisziplinäre Mathematikprojekte fördert.
"Es war mir sofort klar, dass die Ausschreibung perfekt auf mich passt", sagt er. Also sah er sich nach Kooperationspartnern um und wurde beim Vienna Reading Center (VRC) an der Augenklinik der Med-Uni fündig. Nun will er mit seiner eben erst gegründeten Arbeitsgruppe Algorithmen entwickeln, die aus der Menge der Untersuchungsbilder eine Art synthetisches Bild erzeugt. Dieses soll alle diagnoserelevanten Merkmale deutlich zur Geltung bringen und so dem Arzt auf den ersten Blick Klarheit verschaffen.
Die Bilder stammen dabei von verschiedensten Untersuchungsmethoden. Manche nehmen das vom Auge reflektierte Licht auf, andere bringen die Netzhaut mittels Autofluoreszenz zum Leuchten. Bei einer dritten Methode, der optischen Kohärenztomografie (OCT), wird das Auge nicht frontal betrachtet. Stattdessen wird ein Querschnitt der Netzhaut in vielen nebeneinanderliegenden Schichten aufgenommen.
Nun werden aber nicht in allen dieser Bilder krankheitsrelevante Merkmale gleichermaßen gut erkannt. Manche Erkrankungen kann man mit einer einzigen dieser Methoden vielleicht gar nicht diagnostizieren, sondern erst in der Gesamtheit der Aufnahmen.
Hier setzt nun die Mathematik an. Aus der komplizierten Menge der Bilder, also aus etwas Hochdimensionalem, wie das in der Fachsprache ausgedrückt wird, soll etwas Einfaches gemacht werden, in diesem Fall das synthetische Pseudobild.
Die einzelnen Bilder werden dafür in elementare Bausteine zerlegt. Damit sind aber nicht etwa Pixel gemeint, sondern Bildstrukturen. Die Zusammensetzung des Pseudobilds findet dann auf Basis dieser Bausteine statt, die geeignet modifiziert werden. Dazu muss erkannt werden, welche davon für die Diagnose wichtig sind und welche nicht.
Objektive Beurteilung
Ein anderes Ziel seines Projekts ist die Quantifizierung von Symptomen im Auge. Medizinische Studien laufen so ab, dass Unikliniken aus aller Welt ihre Aufnahmen an das VRC schicken. Dort vermessen sogenannte Grader, also Beurteiler, auf ihren Bildschirmen mehr oder weniger händisch die relevanten Strukturen, und tragen ihre Messungen in einen Fragenkatalog ein. Dieser Prozess soll automatisiert werden.
"Es geht dabei auch darum, die Methode objektiver zu machen", erklärt Ehler. "Wenn zwei verschiedene Grader dasselbe Bild beurteilen, dann stimmen die Ergebnisse nicht notwendigerweise überein. Ein Programm ist objektiv, und die Ergebnisse sind reproduzierbar."
Diese Objektivität bringt natürlich auch eine bessere Vergleichbarkeit. Kommt der Patient zur Nachuntersuchung wieder, kann man verfolgen, wie sich das Auge verändert hat. Großes Potenzial sieht Ehler vor allem für die Früherkennung. "Wenn man merkt, dass sich kleine Veränderungen immer zu einer bestimmten Krankheit entwickeln, kann man früher therapieren."
Zwei Fächer unter einem Hut
Bei der interdisziplinären Zusammenarbeit gibt es aber auch einige Herausforderungen zu meistern, zum Beispiel in der Verständigung. "Eine Sache ist es, wenn Begriffe der anderen Fachrichtung nicht bekannt sind. Aber noch schlimmer ist es, wenn Ausdrücke auf beiden Gebieten benutzt werden, aber etwas ganz anderes bedeuten", sagt Ehler. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, hat er in den USA auch stundenlang mit Biomedizinern diskutiert und Vorträge angehört. "Da bleiben viele Begriffe hängen."
Auch gilt es, zwei Interessen unter einen Hut zu bringen. "Der Anwender will sein Problem gelöst sehen. Ob die Mathematik, die es löst, 30 Jahre alt ist, ist ihm egal. Der Mathematiker dagegen will natürlich neue Sachen machen und neue Mathematik entwickeln", erklärt Ehler.
Bis man Algorithmen entwickelt und dann auch noch zur praktischen Anwendung gebracht hat, vergeht naturgemäß viel Zeit. "Es ist schön, dass wir für das Projekt acht Jahre Zeit haben. So eine Sache könnte man in einem zwei- bis dreijährigen Projekt, was der typischen Dauer von Forschungsprojekten entspricht, niemals schaffen", sagt Ehler.
Etwa in der Mitte des Projekts sollen die Algorithmen dann noch zu einer zweiten Anwendung gelangen. Die neuen Methoden könnten nämlich auch dem Institut für Schallforschung der Akademie der Wissenschaften nützlich sein. Dort sollen sie eingesetzt werden, um Gehörtests effizienter zu machen. (Elisabeth Guggenberger, DER STANDARD, 26.3.2014)