Jeder darf zwei Minuten reden, am Ende wird abgestimmt. Seit Wochen diskutieren bosnische Bürger in Plenen Reformvorschläge.

Foto: Bürgerplenum Sarajevo

Die einen wollen das Herumdümpeln beenden. Die anderen glauben, dass sich Bosnien-Herzegowina (BiH) erst bewegen wird, wenn die Versumpfung noch schlimmer wird. Die Meinungen der Mitgliedsstaaten der EU zur Bosnien-Politik liegen weit auseinander. Während Großbritannien neuerlich Vorbeitrittshilfen sperren will, fordern die Benelux-Staaten weiterhin, dass die politischen Führer Lösungen finden müssen. Die Bedingungen der EU dürften nicht fallen gelassen werden. Die Benelux-Staaten argumentieren aber auch, dass die Verfassung des Landes der Grund vieler Probleme sei.

In einem kleinem Land mit besonderer historischer Rolle denkt man zur Zeit sogar über eine umfassende Verfassungsreform nach, wie ein EU-Diplomat erzählt, um den Reformstillstand des Balkan-Landes zu beenden. Ideen, wonach BiH in wirtschaftlich sinnvolle Einheiten eingeteilt werden sollte und diese über einen guten Minderheitenschutz in Kultur- und Religionsfragen verfügen sollten, aber es keinerlei "ethnischen Schlüssel" mehr geben soll, kursieren wieder unter Diplomaten. Im Gegenzug dazu sollte man sofort wirksame Wirtschaftshilfe wie den Ausbau der Infrastruktur und Handelsvorteile anbieten, heißt es. Es wird sogar an eine begrenzte Amnestie für Wirtschaftskriminalität gedacht und gleichzeitig daran, Experten zu entsenden, die die schlimmsten Korruptionsfälle aufklären sollen. Das alles würde aber bedeuten, dass der jetzige Vertrag von Dayton aus dem Jahr 1995 aufgelöst werden würde. Daran denkt aber zur Zeit keine der Großmächte, die ihn mitgezimmert haben und die entscheidend sind.

Deutschland gegen "große Aktionen"

In einem der letzten Treffen der Quint vor ein paar Wochen (Großbritannien, Deutschland, Frankreich, die USA und Italien) zeigte Deutschland seine Ablehnung gegen alle "großen Aktionen", also eine neue Initiative zur Verfassungsreform, auch Frankreich zeigte sich zurückhaltend und die USA verweisen immer wieder auf die führende Rolle der EU. Allen voran Deutschland setzt auf "strategische Geduld" und will nach zahlreichen, gescheiterten Mediationsversuchen von Kanzlerin Angela Merkel in den vergangenen Jahren einfach abwarten und gar nichts tun. Innerhalb der EU ist es klar, dass ohne Deutschland gar nichts geht.

Österreich möchte Signale setzen. Einerseits sucht Außenminister Sebastian Kurz bei seinem Besuch am Donnerstag in Sarajevo den Dialog mit der Zivilgesellschaft. Dutzende der Vertreter der Demokratiebewegung werden in die Botschaft geladen. Er und der ungarische Außenminister János Martonyi kommen aber auch mit ihrem Amtskollegen Zlatko Lagumdžija und dem Staatspräsidium zusammen.

Zwei Minuten mit Mikrofon

Kurz möchte aber vor allem auf die Anliegen jener Leute eingehen, die sich seit Wochen in Plenen, vor allem in Tuzla und Sarajevo treffen, um Reformvorschläge in basisdemokratischer Manier auszudiskutieren. Das Plenum ist eine oftmals sehr emotionale Veranstaltung, wo die Bürger jeweils zwei Minuten die Chance haben, ihre Anliegen ins Mikrofon zu sprechen.

Indem man die Plenums-Vertreter ins Zentrum stellt, weckt man Hoffnungen bei der Zivilgesellschaft, die auch wieder enttäuscht werden können. In Bosnien-Herzegowina wird zudem Anfang Oktober gewählt und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich an der Parteienlandschaft oder an der Art, wie Politik gemacht wird, etwas ändern wird. Denn aus der Protestbewegung ist bislang keine neue Partei entstanden und die alten etablierten Parteien, die größtenteils ethno-nationalistisch geprägt sind, werden wohl wieder gewinnen. Jene Leute, die zu den Wahlen gehen (2010 waren es 56,5 Prozent) – wählen diese, weil sie für sie ein Mindestmass an sozialer Sicherheit garantieren.

Überlegt wird von EU-Staaten auch das internationale Geld abzudrehen – Bosnien-Herzegowina ist von den Geldern der Weltbank und des IWF abhängig, um Druck auf Reformen zu machen. Doch auch diese Option ist unrealistisch, weil die internationalen Finanzinstitutionen keinerlei Interesse daran haben, dass Bosnien-Herzegowina komplett Pleite geht. Also pumpt man immer wieder gerade soviel Geld hinein, als zum Überleben notwendig ist.

Keine gemeinsame EU-Situation

In der EU hat man jedenfalls keine gemeinsame Analyse zur Situation in Bosnien-Herzegowina. Im Grund geht es um die Frage, ob die bosnische Verfassung die blockierenden Politiker und die Blockade-Politik produziert und ob man deshalb zunächst die Verfassung (möglicherweise von außen) ändern muss, oder ob die Politiker selbst (und in der Folge die Bürger) für diese Politik zu bestrafen sind und damit eine Änderung erzielt werden kann. In den vergangenen Jahren setzte die EU auf letzteres Modell, das allerdings scheiterte. Sicher ist, dass die Bosnier selbst nicht diese Verfassung erfunden haben, sondern die Internationale Gemeinschaft und dass sich die EU auch selbst, mit der Forderung, die Verfassung zu ändern, in eine Sackgasse manövriert hat.

Innerhalb der EU-Kommission ist man zurzeit – auch angesichts der EU-Wahlen – ohnehin nicht besonders initiativ. Es soll immerhin eine Anti-Korruptionsplattform mit der bosnischen Zivilgesellschaft gebildet werden und man fordert eine verbesserte Koordination der komplizierten politischen Institutionen und Verwaltungseinheiten entlang von Sektoren.

Die Frage nach einer neuen Verfassung

Die Frage, ob primär die Verfassung geändert werden muss, ist nicht einfach zu beantworten, denn tatsächlich zementiert das System Dayton Ethnoproporz, Klientelismus und letztlich Nationalismus. Mit der derzeitigen Verfassung macht es für Politiker wenig Sinn, nicht ethnopolitisch zu agieren, weil sie dadurch verlieren würden. Andererseits ist anzuzweifeln, dass man die Korruptionsbekämpfung und die wirtschaftliche Entwicklung, die von denen Plenen gefordert werden nur mit einer Verfassungsänderung ankurbeln kann. Schließlich geht es den Nachbarstaaten auch ohne Verfassungsprobleme ähnlich schlecht. Und in den Plenen fordern die Bürger gar keine Verfassungsänderung, u.a. weil sie wissen, dass dies wieder neue Fronten bildet.

Es greift auch zu kurz, die Bosnier in die "bösen Parteiführer" und die "guten Bürger" einzuteilen, denn schließlich wählen die Bürger diese Parteiführer und unterstützen so auch ihre Politik. Die Politik dieser Parteiführer besteht im Groben darin, ihre Einfluss- und Machtbereiche bei ihrem Klientel zu behalten oder auszubauen. Das ist nicht neu. Neueren Datums ist allerdings die massive Obstruktionspolitik der bosnischen Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ).

Allen voran der Parteichef der bosnischen HDZ, Dragan Čović, der rund um den EU-Beitritt von Kroatien Morgenluft witterte, brachte die Gespräche mit der EU über Sejdić/Finci zum Scheitern. Die EU verlangt seit Jahren, dass Bosnien-Herzegowina nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2009, die Verfassung so ändert, dass alle Bosnier (auch Minderheiten oder Leute, die sich nicht ethnisch definieren) ins Staatspräsidium gewählt werden können. Bisher können das nämlich nur Bosniaken, Serben und Kroaten, was menschenrechtswidrig ist. Der Jude Finci und der Rom Sejdić hatten die Klage eingebracht.

Die HDZ spielt über den bosnischen Ministerpräsident Vjekoslav Bevanda aber auch auf anderen Ebenen den Blockierer par excellence. Mittlerweile ist es sogar so, dass Sitzungen in Ausschüssen mit der EU verweigert werden, mit dem Argument, dass in manchen Fragen die Kantone nicht konsultiert wurden, obwohl die Kantone in diesen Fragen überhaupt keine Kompetenz haben. Damit versucht die HDZ, die Kantone in alle möglichen Fragen zu involvieren, weil die HDZ vor allem auf der Ebene der Kantone selbst über Macht verfügt. Diese Erpressungspolitik gegenüber der EU und anderen bosnischen Akteuren hat nun erstmals dazu geführt, dass auch das Interimsabkommen mit der EU komplett blockiert ist. Offensichtlich ist, dass die bosnische HDZ auf der Bremse steht. Interessanterweise wurde die HDZ oder Čović oder Bevanda offiziell aber von keinen maßgeblichen EU-Politikern für diese obstruktive und nationalistische Politik gerügt.

Manche EU-Diplomaten befürchten zudem, dass wenn in Kroatien die HDZ wieder an die Macht kommt, dies eine nationalistischere Politik gegenüber Bosnien-Herzegowina bedeuten würde. Der derzeitige HDZ-Chef in Kroatien, Tomislav Karamarko hat die Partei stark nach rechts geführt.

Wut in Sarajewo

Kroatien selbst wird unter anderen EU-Staaten aber auch jetzt nicht mehr als "ehrlicher Makler" gesehen, weil man vermutet, dass der EU-Neuling insgeheim ohnehin die Positionen der nationalistischen bosnischen Kroaten unterstützt. In Sarajevo löste etwa die Tatsache, dass Premier Zoran Milanović nicht die bosnische Hauptstadt, sondern Mostar (wo viele Kroaten leben) während der Proteste besuchte, Wut und Entsetzen aus. Auch das Faktum, dass im kroatischen Parlament (zwar nur von marginalen politischen Kräften, aber dennoch) eine dritte Entität für die Kroaten in Bosnien-Herzegowina gefordert wurde, sorgte für Angst und Empörung in Sarajevo. Hier macht man sich Sorgen, dass durch eine dritte Entität der Staat noch mehr zersplittern könnte.

Da hilft es auch nichts, dass die kroatische Außenministerin Vesna Pusić ein solches Szenario ausschließt und insgesamt eine vernünftige Politik betreibt. Ihr Vorschlag, dass Bosnien-Herzegowina einen speziellen Kandidatenstatus bekommen soll, stößt allerdings bei anderen EU-Staaten auf Unverständnis. In vielen EU-Staaten ist man nicht nur erweiterungsskeptisch, sondern stellt auch die Frage, weshalb die Vergabe des Kandidatenstatus irgendetwas an der Situation in Bosnien-Herzegowina ändern sollte.

Auch der jüngste Versuch des ehemaligen kroatischen Präsidenten Stipe Mesić, der ein "Dayton 2" forderte, ging nach hinten los. Der Präsident der Republika Srpska (RS), der darauf bedacht ist, dass sein eigener politischer Machtbereich nicht eingeschränkt wird, lehnte dies erwartungsgemäß sofort ab. Dodik ist gegen jegliche größere Verfassungsänderung, deshalb erzeugt jeder Versuch eine Verfassungsänderung auf die Agenda zu setzen, Widerstand und verschärft seine nationalistische Rhetorik. Auch die Versuche des Sozialdemokraten-Chefs Zlatko Lagumdžija in den USA für ein "Dayton 2" zu lobbyieren, verwirren die Bosnier. Für die USA ist „Dayton 2" jetzt kein Thema, obwohl in Bosnien-Herzegowina die Medien darüber berichten.

Zweifel an Verfassungsreform

Auch der Wiener Politologe Vedran Džihić, glaubt nicht, dass es sinnvoll ist, jetzt über die Verfassungsreform zu sprechen. "Man riskiert damit, Dodik zu stärken. Es ist der falsche Zeitpunkt." Dodik plädiert ganz offen für eine Sezession der RS von Bosnien-Herzegowina und pflegt enge Kontakte mit Russland.

Angesichts der veränderten geopolitischen Lage wegen der Krim-Krise schlägt deshalb der deutsche Bosnien-Experte Tobias Flessenkemper vom Europa-Institut CIFE in Nizza vor, dass das Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU, das seit Jahren wegen der Sejdić/Finci-Frage auf Eis liegt, nun rasch umgesetzt wird. Flessenkemper meint, dass damit vor allem sicher gestellt würde, dass Bosnien-Herzegowina nicht so leicht – wie nun die Ukraine – geteilt werden könne. "Russland wusste ja, dass die Ukraine viel leichter ohne EU-Vertrag auseinanderzubasteln ist, als mit EU-Vertrag", so Flessenkemper. "Eine vertragliche Bindung ist ein geopolitischer Schutzschirm für Bosnien-Herzegowina", so Flessenkemper.

Er plädiert aber für einen Straf- und einen Anreizaspekt in der Bosnien-Politik der EU. Demnach sollte das SAA-Abkommen der EU zwar das seit 2009 in Kraft getretene Interimsabkommen ersetzen, allerdings sollte dann sofort der "politische Teil des Abkommens suspendiert werden, sodass nur der für den Wirtschaftshandel relevante Teil aufrecht bleibt", so Flessenkemper. Damit würden die Parteiführer für ihr obstruktives Verhalten bestraft und dies würde auch zum Thema im Wahlkampf gemacht werden, gleichzeitig würde man auch Fakten schaffen, die zu mehr geopolitischer Stabilität führen. Bosnien-Herzegowina ist der einzige Staat mit EU-Perspektive (abgesehen vom Kosovo), wo das Abkommen noch nicht in Kraft ist.

Möglicherweise könnte Unterstützung für so eine Vorgangsweise aus osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten kommen, weil diese traditionell die Erweiterung auf dem Balkan unterstützen. Slowenien trat bereits für das Inkrafttreten des SAA-Abkommens ein. Dies wird allerdings in der Kommission nicht goutiert, in der man darauf hinweist, dass bereits das Interimsabkommen nicht funktioniert. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, DER STANDARD, 27.3.2014)