Am Mittwoch haben die Grünen im Nationalrat eine Aktuelle Stunde beantragt. Thema: TTIP, das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA. Werner Faymann hat dazu nicht wirklich etwas gesagt.

Die Bombe platzte etwas später: Für die "Kronen Zeitung" war das so noch keine Geschichte. Sie rief beim Kanzler an und fragte, was er denn von den umstrittenen Schiedsgerichten für Konzerne hält. Da erkannte Faymann wohl den Ernst und sprach sich deutlich dagegen aus. Einfach so, ohne Vorzeichen. Als erster Regierungschef in der Europäischen Union. Bumm.

Der zuständige Wirtschaftsminister Mitterlehner sieht das allerdings anders, jetzt wird's spannend. Das Traurigste an Werner Faymann ist vielleicht das: Einem Oppositionspolitiker muss es lieber sein, wenn er sich gegenüber der "Krone" festlegt als gegenüber dem Parlament. Vor der hat er mehr Respekt.

Die Diskussion über das TTIP ist nun also am Boulevard angekommen – das ist erfreulich, denn dann kann man einen Schritt weitergehen und nicht nur das Abkommen und die Verhandlungen erklären, sondern grundsätzlich diskutieren: Wenn man Freihandel nicht will, was will man dann?

Der Freihandel

Handel ist etwas Wunderbares: Menschen tauschen sich aus, zum gegenseitigen Vorteil, es ist ein Positivsummenspiel, bei dem es am Schluss beiden besser geht. Handel schafft Wohlstand und hilft, Frieden zu sichern. Wenig spricht dagegen, viel dafür. Allerdings: Wenn in Supermärkten im Burgenland Weintrauben aus Argentinien angeboten werden, kann man schon einmal nachdenken.

Betriebswirtschaftlich ist dieses Angebot rentabel, sonst würde es nicht gemacht werden. Aber ist es das auch aus ökologischer Sicht? Wenn die heimische Textilindustrie fast völlig vernichtet wurde und wir alle jetzt T-Shirts aus Bangladesch um 3,90 Euro tragen, ist das betriebswirtschaftlich auch rentabel. Aber ist das für alle Beteiligten ein Positivsummenspiel? Ist es sozial vertretbar und wünschenswert?

Wer gegen Freihandel ist, ist nicht automatisch gegen Handel – logisch, denn wenn beide dasselbe wären, bräuchte es dafür ja nicht zwei Wörter. Was ist nun also der Unterschied? Wovon ist Freihandel eigentlich befreit?

Nun, vom Einfluss des Staates und seinen Entscheidungsmechanismen. Also frei von Demokratie und Rechtsstaat.

Investitionsschutz: Das I in TTIP

Die jetzt umstrittenen Schiedsgerichte für den Investitionsschutz sind dafür das perfekte Beispiel. Sie zeigen auch, wie eine grundsätzlich gut gemeinte Idee korrumpiert und missbraucht werden kann.

Das erste derartige Abkommen wurde Ende der 50er-Jahre zwischen Deutschland und Pakistan abgeschlossen. Deutsche Unternehmen stießen in dem Land auf eine überbordende Korruption, wurden ständig mit Strafzahlungen und Enteignung bedroht. Wenn sie sich an die pakistanische Justiz wandten, fanden sie nur eines: mehr Korruption. Das System war so tief verwurzelt, dass die pakistanische Regierung deutsche Unternehmen nicht einfach ausnehmen konnte.

So entstand die Idee, die Prozesse aus dem lokalen Justizsystem herauszulösen und privaten Schiedsgerichten zu übertragen. Auf dem Papier ist das Abkommen symmetrisch, auch pakistanische Unternehmen müssen sich in Deutschland nicht an die lokale Justiz wenden. Aber es liegt auf der Hand, dass das Investitionsvolumen asymmetrisch ist. Man kann hier von einem eindeutigen Quell- und einem Zielland für den Kapitalfluss sprechen. Deutschland bekam Schutz für seine Unternehmen, Pakistan blieb als Standort akzeptabel.

Das Beispiel machte Schule: Heute sind, je nach Abgrenzung des Inhalts, weltweit zwischen 2.400 und 3.000 solcher Abkommen in Kraft. Man nennt sie ISDS, Investor State Dispute Settlements. Um die Handhabung der Verfahren zu vereinfachen, wurde 1965 ein Internationales Zentrum für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten, das ICSID, gegründet. Dort werden die Abkommen hinterlegt.

Die Schiedsgerichte

Die Verfahren am ICSID entsprechen nicht unseren rechtsstaatlichen Standards. Es werden drei Anwälte als "Richter" bestellt: einer vom klagenden Konzern, einer vom beklagten Staat und einer – meist die oder der entscheidende – vom ICSID selbst. Die Verfahren werden geheim geführt, und gegen die Entscheidung ist kein Einspruch zulässig. Praktisch alle Anwälte kommen aus 15 großen Wirtschaftskanzleien, die auf diese Verfahren spezialisiert sind. Es ist eine kleine Szene, die permanent mit sich selbst verhandelt: Mal vertritt man die Kläger, mal die Beklagten, mal die "neutrale" Seite, immer wieder trifft man auf die vertrauten Gegenüber und macht sich Urteile in Milliardenhöhe aus. Weil die Verfahren geheim sind, müssen diese Anwälte keine öffentliche Rechenschaft ablegen. Man kann sich ausmalen, wie die Deals laufen.

Inzwischen gibt es professionelle Prozess-Finanzierer, die Klagemöglichkeiten suchen, an Unternehmen aktiv herantreten und ihnen anbieten, Verfahren komplett abzuwickeln und im "Erfolgsfall" eine Beteiligung an den Strafzahlungen zu kassieren. Ein lukratives Geschäft.

Denn vor dem ICSID geht es längst nicht mehr um klassische Korruption und platte Enteignung. Die Verträge werten inzwischen viele politische Entscheidungen, die für Konzerne Kosten bedeuten, als Enteignung zukünftiger Gewinne. Der spektakulärste Fall betrifft aufgerechnet Deutschland: Als die Regierung nach dem Unglück von Fukushima den Atomausstieg beschloss, klagte der Kraftwerksbetreiber Vattenfall auf mehr als vier Milliarden Euro Schadenersatz, das Urteil steht noch aus.

Um gleich bei dreckiger Energie zu bleiben: Greenpeace deckte auf, wie der US-Konzern Chevron bei der Obama-Regierung für die Schiedsgerichte im TTIP lobbyiert, um Schiefergas-Förderstellen in Bulgarien abzusichern. Im Fall eines Fracking-Verbots soll dann geklagt werden.

Das von Österreich geflochtene Netz

"Warum ist das jetzt plötzlich ein Problem? Das ist doch alles nichts Neues, das machen wir ständig ..." Das hat mich der ÖVP-Abgeordnete Johannes Rauch vor zwei Tagen bei einer Podiumsdiskussion zu ISDS gefragt. Eh.

Die ersten Investitionsschutzabkommen unterzeichnete Österreich erst 1985 mit China und Malaysia. Wenig später brachen die kommunistischen Regime zusammen, und heimische Unternehmen machten sich auf in die neuen Republiken mit ihren jungen Rechtssystemen. Österreich unterzeichnete die Abkommen gleich reihenweise, auch mit vielen Ländern, die seither EU-Mitglieder wurden. Bald schloss die Republik praktisch jedes Jahr mehrere solcher Verträge ab.

Unsere diesbezüglichen Partnerländer sind nun zusätzlich zu den bisher genannten Ägypten, Albanien, Algerien, Argentinien, Armenien, Aserbaidschan, Äthiopien, Bangladesch, Belize, Bosnien, Bulgarien, Chile, Estland, Georgien, Guatemala, Hongkong, Indien, der Iran, der Jemen, Jordanien, Ex-Jugoslawien, Kap Verde, Kasachstan, Südkorea, der Kosovo, Kroatien, Kuba, Kuwait, Lettland, der Libanon, Litauen, Libyen, Malta, Marokko, Mazedonien, Mexiko, Moldawien, die Mongolei, Namibia, der Oman, Paraguay, die Philippinen, Polen, Rumänien, Russland, Saudi-Arabien, die Slowakei, Slowenien, Südafrika, Tadschikistan, Tschechien, Tunesien, die Türkei, die Ukraine, Ungarn, Usbekistan, die Vereinigten Arabischen Emirate, Vietnam und Weißrussland. In Summe sind das 62 Investitionsschutzabkommen mit 60 Ländern.

Aktuell verhandelt wird nicht nur das TTIP, sondern auch das ähnliche CETA mit Kanada, das wir nicht aus den Augen lassen dürfen, weil es über kanadische Tochterfirmen ein Schlupfloch darstellt, sollten die US-Verhandlungen scheitern.

"Österreich wurde aufgrund dieser Verträge noch nie geklagt", sagte Rauch. Stimmt. Das liegt wohl daran, dass wir bei dieser Liste nie Zielland der meisten Investitionen waren. Mit TTIP und CETA Könnte sich das zum ersten Mal ändern.

Aber wenn uns in Österreich diese Klagerechte – zu Recht – so stören, ist es dann nicht an der Zeit, die eigene Praxis zu hinterfragen? Was bedeuten diese Abkommen eigentlich für Belize, Kap Verde oder Tunesien?

Apologeten sagen oft, Handel würde die Ausbreitung von Demokratie und Rechtsstaat fördern, weil das Standortvorteile seien. Das glaube ich. Aber warum nimmt der Frei-Handel dann gerade diese Aspekte aus? Bei 3.000 Investitionsschutzabkommen weltweit ist ein besserer Rechtsstaat kein Standortvorteil mehr, und eine Verbesserung macht eine arme Nation nicht wettbewerbsfähiger. Für internationale Investoren spielt das kaum noch eine Rolle, weil die Rechtsprechung bereits privatisiert ist. Wollen wir eine solche Entwicklung?

Weil wir durch TTIP plötzlich selbst betroffen sind, besteht die Möglichkeit, das ICSID und sein System ins grelle Licht zu rücken. Neoliberale Konstrukte wie dieses sind wie Vampire: Im Licht können sie nicht leben.

Die Aushebelung der Demokratie

Deshalb sollten wir die Scheinwerfer auch auf die Anstrengungen lenken, die Demokratie auszuhebeln. Hier versucht man mit TTIP etwas Neues: die Privatisierung der Gesetzgebung. Es soll ein gemeinsames oberstes Regulierungsinstitut geschaffen werden, das weder eine europäische noch eine amerikanische Behörde ist. Beide Wirtschaftsräume sollen aber vertraglich vereinbaren, sich den Entscheidungen dieses Instituts zu unterwerfen.

Dieses RCC (Regulatory Cooperation Council) soll die oberste Instanz bei der Entwicklung neuer Standards für Produkte und Dienstleistungen werden und auch entscheiden, welche bisherigen Regulierungen "unnötige Barrieren für den Marktzugang" sind. Wie das RCC zusammengesetzt wird, wie weitreichend die Kompetenzen sind, nach welchen Kriterien es zu entscheiden hat und wer darauf Einfluss nehmen kann, ist derzeit Gegenstand der intransparenten Verhandlungen. Nichts Genaues wissen wir nicht.

Als der US-Verhandler Daniel Mullaney vergangene Woche in Wien war, um eine PR-Tour zu absolvieren, wurde er auch gefragt, welche europäischen Standards die USA denn als unnötige Barrieren betrachten würden. Nach viel Herumdrücken rückte er mit einem Beispiel heraus: die Herkunftsbezeichnungen von Wein. Champagner muss aus der Champagne kommen. Das ist natürlich ein lächerliches Ablenkungsmanöver.

Worüber Mullaney nicht gesprochen hat, ist zum Beispiel REACH, die strenge und von der Industrie heftig bekämpfte Chemikalienverordnung der EU. Europa und die USA haben diametral entgegengesetzte Zulassungssysteme. Bei REACH gilt das Vorsorgeprinzip: im Zweifel für den Schutz von Konsumenen und Umwelt. Eine neue Chemikalie muss ausgiebig getestet werden und ihre Unschädlichkeit beweisen, bevor sie zugelassen wird.

In den USA wird ein Produkt zugelassen, bis seine Gefährlichkeit wissenschaftlich bewiesen ist. Aber ab wann kann man Gesundheitsschädlichkeit beweisen? Erst wenn bereits Menschen geschädigt wurden. Dann braucht man aufwendige Tests, um die Kausalität nachzuweisen, und muss teure Prozesse führen. Beweislast und Kosten liegen bei den Organisationen für Konsumenten- und Umweltschutz.

Das RCC könnte das europäische Vorsorgeprinzip aushebeln. Damit würde ein gegen die Chemieindustrie mühsam demokratisch errungener Erfolg zunichtegemacht. Und das ist nur ein Beispiel von vielen.

Make fair trade, not free trade

Das TTIP erlaubt uns, Widerstand zu fokussieren. Die Chancen, dass wir es scheitern lassen können, sind inzwischen groß. Gegen ISDS sprechen sich bereits international bedeutende Stimmen aus, etwa Ex-Weltbank-Chef Robert Zoellick. Es wird nun wichtig sein, auch das RCC und die harmlos klingende "gegenseitige Anerkennung von Standards" ins Visier zu nehmen und zu kippen.

Aber danach muss es weitergehen. Wir brauchen konstruktive Ansätze. Handel ist wohl so etwas wie ein ökonomisches Grundbedürfnis einer Gesellschaft. Freihandel ist eine historisch junge Entwicklung, die erst mit dem Durchbruch des Neoliberalismus als vorherrschender Ideologie zum "Normalfall" wurde. Das hat Jahrzehnte gedauert. Der Widerstand beginnt aber auch nicht mit TTIP und wird hier nicht enden. Es dauert sicher Jahrzehnte, um die internationale Handelspolitik auf gerechtere Beine zu stellen, aber es ist machbar.

Das Ziel muss fairer Handel statt Freihandel sein. Handelsabkommen müssen Anreize so setzen, dass hohe Standards bei Umweltschutz, Sozialsystemen und Arbeitsrecht ein Standortvorteil werden. Dafür gibt es durchaus detailliert ausgearbeitete Konzepte.

Europa kann da auch allein vorangehen. Wenn in Bangladesch 16-jährige schwangere Mädchen bis zur Entbindung am Webstuhl arbeiten und am nächsten Tag wieder dort sitzen müssen, dann sollten wir das nicht mit dem Abbau aller Handelsschranken belohnen. Dafür sollte es Strafzölle geben. Und diese Zölle sollten mit jedem Fortschritt, den Bangladeschs Regierung ihrer Bevölkerung zukommen lässt, sinken. So wird Sozialpolitik ein Standortvorteil und Handel ein positiver Anreiz.

Europa ist der größte Markt der Welt. Wir sind das lohnendste Handelsziel auf diesem Planeten. Wir können auch fair handeln. (Michel Reimon, Leserkommentar, derStandard.at, 27.3.2014)