"Ich habe nie kapiert, dass ein Lehrer für einen Zehnjährigen die Entscheidung treffen kann, ob er später studiert oder ein Handwerk lernt", sagt Alfred S. Posamentier, Dekan der School of Education am New Yorker Mercy College.

Foto: Corn

STANDARD: Worauf legen Sie als Dekan der Mercy College School of Education in New York bei der Lehrerausbildung besonderen Wert?

Posamentier: Die Lehrerausbildung fängt damit an, dass man die richtigen Kandidaten auswählt. Nicht jeder ist geeignet für diesen Beruf. Das Wichtigste ist, die Leute zu begeistern und ihnen zu vermitteln, dass sie eine große Verantwortung haben. Wenn Lehrer nicht nur das machen, was im Lehrplan steht, dann werden sie persönlich enthusiastisch, und das ist ansteckend.

STANDARD: Wie wählen Sie die "besten" Studierenden für Ihre Mercy College School of Education aus?

Posamentier: Erstens die Noten. Die Kandidaten müssen mindestens B plus haben. A ist die beste Note in den USA. Dann werden sie interviewt. Die letzte Phase im Studium ist jene, in der sie in Schulen quasi als Lehrlinge üben. Ich kenne einige Fälle, bei denen ein zukünftiger Lehrer ein super Student war, aber dann vor der Klasse eine Katastrophe. Da muss man leider sagen: Die müssen sich einen anderen Beruf aussuchen.

STANDARD: Sie haben seit Rudolf Scholten ab 1990 alle österreichischen Unterrichtsminister/-innen beraten und kennen das hiesige Bildungssystem sehr gut. Was würden Sie ändern, wenn Sie in Österreich Unterrichtsminister wären?

Posamentier: Ich würde keinen Schuldirektor ernennen, bevor er nicht eine Ausbildung hat, entweder in Leadership und Administration. Zweitens: Es ist nicht so schlimm wie vor 30 Jahren, aber was ich nie kapieren konnte, ist, dass ein Lehrer für einen Zehnjährigen die Entscheidung treffen kann, ob er später studiert oder einen Handwerksberuf erlernt. Das ist für mich unvorstellbar. Und, ehrlich gesagt: Wenn der Lehrer bei mir mit zehn Jahren über meine Schullaufbahn entschieden hätte, wäre ich jetzt bestimmt nicht Dekan, sondern Straßenkehrer (lacht).

STANDARD: Sehen Sie sonst noch Änderungsbedarf im österreichischen Bildungswesen?

Posamentier: Die Pädagogischen Hochschulen und die Lehrerbildung der Universitäten sollten sich zu Schools of Education zusammenschließen. Das muss geschickt gemacht werden, nicht dass die Uni-Professoren die Besten sind und die anderen auf einer niedrigeren Stelle stehen. Die Uniprofessoren machen Forschung, das bringt den Beruf weiter, das ist wichtig, aber sie müssen auch wissen, dass sie eine Verantwortung für die Ausbildung der Lehrer haben. Die Lehrerausbildung muss universitär sein, so wie die Ausbildung für Kindergartenpädagogik auch. So ist es in allen 50 US-Staaten.

STANDARD: Was ist der wichtigste Faktor in einer guten Schule?

Posamentier: Der Direktor! Ein guter Direktor kann auch einen mittelmäßigen Lehrer besser machen. Aber man muss ihm auch mehr Macht geben. Wir haben online und vor Ort in New York gerade 20 Schuldirektoren, die meisten aus Niederösterreich. Ein Kurs in diesem Programm ist über Schulfinanz, weil das in den USA wichtig ist. Aber in Österreich ist das kein Thema! Wir mussten das gegen eine andere Vorlesung austauschen, weil Schulfinanz für die Österreicher überhaupt nicht interessant war.

STANDARD: Sie haben am Mercy ein Elternzentrum gegründet. Warum?

Posamentier: Die einfachste Erklärung ist: Die Kinder, die zu Hause Unterstützung bekommen, sind besser in der Schule als jene, die das nicht bekommen. Es gibt viele Eltern, die selbst keine gute Bildung haben, die sehr jung sind, vielleicht mit Sprach- oder Kulturproblemen. Die müssen wissen, was sie mit den Kindern zu machen haben, wenn sie nur beim Computer sitzen oder Bullying erleben. Die Eltern sind sehr wichtig. Wir haben also ein Parent-Center in der Bronx gegründet, und das Schöne dabei ist, dass wir denen etwas anbieten, und zwar ehrenamtlich, obwohl es unserer Hochschule finanziell nichts bringt. Keiner unserer 45 Professoren wird für seine Veranstaltungen zur Leseunterstützung, für Mathematik, Sprachhilfe oder gegen Mobbing bezahlt.

STANDARD: In Österreich gibt es gerade große Aufregung darüber, dass Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek Österreichs Teilnahme an der nächsten Pisa-Studie abgesagt hat.

Posamentier: Bravo!

STANDARD: 2012 lag Österreich in Mathematik und Naturwissenschaften vor den USA, im Lesen sind die Amerikaner vorn. Ist die Pisa-Studie in Amerika umstritten?

Posamentier: Nein - sie wird ignoriert, und meine Meinung ist, dass die Vereinigten Staaten die Pisa-Studie auch nicht ernst nehmen sollten, weil, auf gut Englisch: You're comparing apples and oranges. Wir haben in den USA alle Schüler in einem Topf, da hat man Schwächere, da hat man Gute. Wer gerade teilnimmt, weiß man nicht. Aber weil wir so ein gemischtes Publikum haben - die US-Bundesstaaten sind sehr verschieden im Bildungsbereich - ist ein internationaler Vergleich nicht sehr bedeutsam. Es kommt noch etwas dazu: Wenn man sich die Kultur in Asien anschaut, die Kinder lernen dauernd. Ich sehe es bei den asiatischen Gruppen in den Vereinigten Staaten. Samstag, Sonntag kommen die zum Privatunterricht und zur Nachhilfe. Es ist die Familie! Schule ist eine Familiensache, und wenn man das nicht zur Kenntnis nimmt, macht man einen großen Fehler. Die Familie ist der vernachlässigtste Teil in der Schule und der Erziehungs- oder Bildungsgleichung.

STANDARD: Welche Bedeutung haben denn solche Schülervergleichstests - nationale und internationale - in den USA?

Posamentier: Man hört davon, aber es wird nicht so ernst genommen wie in Europa, wo es immer große Aufregung gibt. Ah, wir sind an zehnter Stelle? Fürchterlich! Das gibt es bei uns nicht. Was ich vielmehr als großes Problem empfinde, ist das "Teaching to the test". Das ruiniert den Unterricht, hat sich aber in den letzten Jahren etabliert, weil in den Schulen so viele Sachen geprüft werden. New York hat eine lange Testtradition seit 1866, als mit den jährlichen "Regents Exams" an den High Schools begonnen wurde, eine New-York-weite standardisierte Prüfung in zentralen Fächern. Früher hatte man Vertrauen in die Tests. Wenn man es richtig macht, klappt alles. Heutzutage mit den politischen Slogans "No child left behind" von George W. Bush und jetzt "Race to the Top" von Barack Obama stehen die Lehrer unter Testdruck. Wenn ihre Schüler schlecht abschneiden, schneiden sie schlecht ab. Also wird manchmal auch gemogelt, indem schwächere Kinder nicht getestet werden. Das ist schlimm. Obwohl es schön ist, zu wissen, wie gut man unterrichtet, aber wenn es als Strafe für die Lehrer benutzt wird, dann hat es keinen Sinn.

STANDARD: Sie haben im Jahr 2013 mit Ingmar Lehmann das Buch "Magnificent Mistakes in Mathematics" veröffentlicht. Was ist ihr liebster Mathematik-Fehler?

Posamentier: Ich will vor allem zeigen, dass Mathematik schön ist. Von Fehlern kann man gute Sachen lernen, und dann vergisst man sie auch nicht. Zum Beispiel wenn man den Fehler macht und durch null dividiert, dann kommen verschieden verrückte Ergebnisse heraus, wie zum Beispiel 1=2 (lacht). (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 28.3.2014)