Frankreichs Parteizentralen zittern dem Sonntag entgegen, und auch alle Medien stellen die bange Frage: Wird der Front National (FN) seinen Erfolg vom ersten Wahlgang am Sonntag bestätigen und eine Handvoll größerer Gemeinden im Land erobern können? Die genaue Zahl ist unerheblich und keineswegs imposant, wenn man auf die Existenz von – oft sehr kleinen – 36.600 Orten in Frankreich abstellt.

Doch darum geht es nicht einmal. Wichtiger ist die Art, wie die Kandidaten von FN-Chefin Marine Le Pen reüssieren: Mit ihrem betont gemäßigten und sozialen Auftreten haben sie vor allem in Südfrankreich, aber auch in Lothringen und dem industriellen Norden vielenorts 30, 40 und in einem Fall gar mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten.

Großparteien nicht länger unter sich

In hunderten Gemeinden und Städten zwingt der FN die Vertreter des regierenden Parti Socialiste (PS) und der bürgerlichen Union für eine Volksbewegung (UMP) überdies zu Dreieckswahlen. Der Ausgang dieser "triangulaires" ist in den meisten Fällen offen. Klar ist hingegen, dass die beiden etablierten Großparteien das Rennen nicht mehr unter sich ausmachen, wie sie das jahrzehntelang gewohnt waren.

In der Verfassung der Fünften Republik hatte Charles de Gaulle 1958 ein klares Zweiparteiensystem eingerichtet, in dem das Mehrheitswahlrecht dem gerade stärksten Lager eine bequeme Grundlage zum Regieren verschafft. Mit dem Aufstieg des Front National zur "dritten Kraft im Land" - wie Le Pen am vergangenen Sonntag erklärte - sind die Zeiten vorbei, als einander die Gaullisten und die Linke in den Rathäusern und Regierungen bekämpften und regelmäßig ablösten.

Ungeschriebene Regel außer Kraft

Ausgedient hat auch die "republikanische Front", das heißt der gegenseitige Verzicht linker und bürgerlicher Kandidaten, falls irgendwo der Sieg eines FN-Kandidaten drohte. Diese ungeschriebene Regel ist nun außer Kraft: Die UMP zieht sich nicht mehr automatisch zugunsten eines Sozialisten zurück, wenn ein FN-Sieg droht. Die von UMP-Chef Jean-François Copé herausgegebene Weder-noch-Parole des "ni ni" (weder Sozialisten noch Frontisten) ist auch ein psychologischer Dammbruch: Erstmals wird der Front National, der früher als Schmuddelpartei ausgegrenzt worden war, gleich behandelt wie andere Parteien.

Gute Chancen bei Europawahl

Der Ausschluss der Rechtspopulisten vom politischen Leben ließ sich von einem demokratischen Standpunkt aus gar nicht länger aufrechterhalten. Laut Umfrageinstituten hat die einst offen rassistische oder zumindest xenophobe Partei ("Die Franzosen zuerst!") gute Chancen, bei der Europawahl im Mai noch vor PS und UMP stärkste Formation Frankreichs zu werden. In der Nationalversammlung haben die Lepenisten aber wegen des geltenden Mehrheitswahlrechts lediglich zwei von 577 Sitzen. Sollte der FN im Mai wirklich zur stimmenstärksten Partei aufsteigen, wäre das Wahlsystem der aktuellen Verfassung ad absurdum geführt.

Ohne Mehrheitswahlrecht macht die Fünfte Republik mit ihrer Betonung der Zentralmacht aber keinen Sinn. Denn darauf beruht auch das Herzstück der Verfassung, die Allmacht des Staatschefs. Seine absoluten, um nicht zu sagen absolutistischen Kompetenzen sind nicht erst seit dem Vormarsch der Frontisten umstritten: In völligem Widerspruch zur Gewaltentrennung à la Montesquieu herrscht der französische Staatschef nicht nur über das Gesetzgebungsverfahren, sondern – via sein Weisungsrecht an die Staatsanwälte – auch über die Justiz des Landes.

Die politische und persönliche Schwäche des aktuellen Präsidenten François Hollande offenbart ihrerseits, wie unzeitgemäß die Verfassung der Fünften Republik ist. Schon sein Vorgänger Nicolas Sarkozy hatte nicht mehr in das feierliche Elysée-Protokoll gepasst. Doch die Fiktion des landesväterlichen Alleinherrschers im Präsidentenpalast wurde aufrechterhalten. Der Front National droht nun das gesamte Gefüge der Verfassung aus den Angeln zu heben. Sollte er am Sonntag – und danach bei der Europawahl – einen weiteren durchschlagenden Erfolg erzielen, droht Frankreich zur wirtschaftlichen bald einmal eine institutionelle Krise. (Stefan Brändle, derStandard.at, 28.3.2014)