Das Holoband aus der Serie "Caprica" ist noch in sehr weiter Ferne. Doch es fällt schwer zu bezweifeln, dass wir es eines Tages in unseren Händen halten werden.

Foto: SyFy Channel

Manche sind ihrer Zeit voraus, andere laufen ihr nach und die Mehrheit aller Menschen findet sich wahrscheinlich in der Gegenwart wieder. Ich gehöre zu jener Art Geister, die nicht aufhören können, sich nach dem Unbekannten zu sehnen. Welche psychologische Irritation meines Gehirns die Medizin auch immer feststellen würde, ich kann jedenfalls nicht ändern, dass mein Leben zum Großteil im nicht greifbaren Bereich meiner Vorstellung versickert.

In einer Welt, die sich immer schneller zu drehen scheint, wäre es praktischer ein Pragmatiker oder eine andere gesellschaftstauglichere Tautologie zu sein. Aber mit jedem Jahr mit dem ich länger zwischen dem Realen und dem Möglichen hin und her drifte, bekommt mich zu meiner introvertierten Erleichterung immer stärker das Gefühl, mit dieser Traumsucht nicht allein zu sein.

Die Tore zum Unbekannten

Für die Menschheit war es tatsächlich wohl nie etwas Sonderbares, nicht ganz im Hier und Jetzt zu sein. Wie sonst hätten Wissenschaftler vor hunderten Jahren Theorien über physikalische Gegebenheiten aufstellen können, die sie niemals messen konnten? Wie sonst könnten Philosophen in Abgründe der Seele eintauchen, die vorher niemand zu benennen vermochte? Wie sonst hätten Science-Fiction-Autoren Bilder der Zukunft malen können, wären sie nicht in der Lage gewesen, sich den Fesseln der Vergangenheit und Gegenwart zu entziehen?

Der Unterschied zu früher ist, dass heute immer mehr Menschen, auch solche mit weniger begabten Gehirnen wie meinem, Zugänge zu derartigen Fantasien finden. Jede der Medienrevolutionen trägt aufs Neue dazu bei, unsere Kapazitäten fürs Irreale zu erweitern. Das geschriebene Wort "Liebe" kann Emotionen auslösen, die uns in der Zwischenmenschlichkeit vielleicht bislang nicht widerfahren sind. Das Foto eines Toten erfüllt uns mit Grauen und Ängsten, denen wir in der Realität möglicherweise noch entkommen konnten und die Musik im Ohr kann uns stärker und größer werden lassen, als es die Genetik für uns vorgesehen hat. Medien erleichtern uns abzudriften, öffnen Tore zu Erfahrungen, die wir ansonsten unter Umständen nie oder nur sehr selten kennenlernen würden.

Die Triebfeder des Schaffens

Eine zur Ruhe gelassene Pornodarstellerin, deren Namen mir bereits über die Pubertät hinweg entfallen ist, meinte einst in einem Interview, dass sich Frauen und Männer in dieser Industrie in drei unterschiedliche Motivationstypen unterteilen ließen. Die einen geben ihren Körper für Geld her, die anderen für Ruhm und die wenigsten deshalb, weil sie der Nymphomanie verfallen sind. In dieser Erkenntnis steckt so viel Wahrheit, dass sie sich auch auf die Allgemeinheit übertragen lässt. Mag sein, dass Sie nicht nach Geld streben, aber was ist mit Macht? Gut möglich, dass Sie nicht berühmt werden wollen, aber was ist mit sozialer Anerkennung? Und es sei Ihnen unbelassen, nicht ständig an Sex zu denken, doch was ist mit Kinderkriegen? Jeder von uns trägt eine grundlegende Motivation in sich, die uns Dinge tun lässt, zu denen andere kaum Bezug haben. Und wie die meisten von uns motivieren mich mehrere dieser Ziele, doch als Triebfeder meines Schaffens kann ich getrost die Sehnsucht nach dem Unvorstellbaren bezeichnen.

Für Menschen wie mich finden in der Gegenwart aktuell sehr aufregende Zeiten statt. Nach dem Buch, dem Radio, dem Fernsehen, dem Videospiel und dem Internet steht uns mit Virtual Reality (VR) eine neue Medienrevolution bevor. Noch steckt sie in ihren Kinderschuhen, doch die Technologie ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten endlich soweit fortgeschritten, dass das Fundament dafür gelegt werden kann.   

Holodeck und Holoband

Es handelt sich um ein Medium, das in der Literatur schon vor Ewigkeiten vorhergesehen wurde. Vom vorausschauend warnenden Neuromancer (1984) bis zum wissenschaftlich inspirierten Star Trek und dessen "Holodeck". Ein Raum, in dem man jedes erdenkliche Szenario computergeneriert reproduzieren kann. In einem Moment steht man in einem Cafe in Frankreich und gibt Brigitte Bardot einen Drink aus, im anderen Moment liefert man sich in einem Hinterhof im Chicago der 1920er-Jahre eine Schießerei mit Al Capone. Jeder Gegenstand lässt sich anfassen, Gerüche sind so ekelhaft uns schön wie im echten Leben.

Gefälliger als die Vision vom Holodeck, das in der Serie doch mehr den Charakter eines Simulators für wissenschaftliche Zwecke hat, ist für mich allerdings das Holoband aus der 2010 erschienenen Serie "Caprica". Über ein Holoband, das man wie eine Brille aufsetzt, wird das Gehirn mitsamt aller Sinne mit einer virtuellen Welt (V-World) verbunden. Alles, was man von da an erlebt, findet nur im Kopf statt, und wirkt dennoch so real wie die Wirklichkeit selbst. Über das Holoband kann man jeden Tag ein anderer Mensch sein, der jeden Tag andere Welten bereist und jeden Tag andere Abenteuer erlebt. Wer du bist, welche Träume du dir verwirklichen kannst, wen du kennenlernst, wird auf einmal nicht mehr dadurch bestimmt, wie viel Geld du hast, wo du geboren wurdest oder in welchen sozialen Kreisen du verkehrst, sondern allein durch deine Vorstellungskraft, Wünsche und Träume. Es ist egal, ob du in Wirklichkeit nicht laufen kannst oder keine Stimme zum Singen hast - in V-World kannst du deine physischen und gesellschaftliche Barrieren spielend überwinden.

Der Anfang eines Traumes 

Der Traum von einem "Caprica", einer Welt in der all dies Möglich ist, war der Grund, weshalb ich Zeit meines Lebens nicht von Videospielen absehen konnte und mich heute noch wie ein kleines Kind über jede Weiterentwicklung freue. In den vergangenen Monaten und Wochen hat sich dieser Traum immer mehr zu einer konkreten Erwartung geformt. Erstmals in der Geschichte steht die Menschheit vor der Etablierung massenmarkttauglicher Virtual-Reality-Produkte.

Morpheus und Oculus Rift, wie die ersten Schöpfungen heißen, sind noch Jahrzehnte und vielleicht noch weiter entfernt von Holoband und Holodeck. Doch sie werden Menschen auf leistbare Weise zunächst einen audiovisuellen Einstieg in virtuelle Welten ermöglichen, wie er uns bislang verwehrt blieb. Dazu gehört, dass nicht nur die Technologie mittlerweile fortgeschritten genug ist, um solche Erlebnisse nicht nur verträglich und überzeugend zu gestalten, sondern auch die dahinter stehenden Kräfte groß genug sind, um einen derartigen Paradigmenwechsel zu stemmen.

VR für die Massen

Ob man es gut heißen will oder nicht, dass hinter Morpheus und nun auch Oculus Rift riesige Konzerne wie Sony und Facebook stehen: Durch die finanziellen Kapazitäten, eine Milliarden zählende Kundenbasis und branchenweit vernetzte Ökosysteme dieser Giganten, sind die Chancen, dass VR eines Tages zum Medium der Massen wird, deutlich höher, als sie es noch vor wenigen Wochen waren.

Erfindungen und geniale Ideen können in der Garage oder in den Labors von Start-ups kreiert werden, für die hunderte Millionen teure Vermarktung und den Vertrieb dieser Technologieprodukte benötigt es wohl die Infrastruktur solcher Unternehmen. Und für die Etablierung einer neuen Medienform noch viel viel mehr als nur Geld.

Eine neue Welt

Mit den Ressourcen global agierender Unternehmen wird künftig ein ganzer Markt für VR-Erlebnisse aus dem Boden gestampft. Spiele und auch Anwendungen, die nicht auf Unterhaltung aus sind, werden wie Pilze aus der Erde sprießen. Das werden zunächst viele kleinere und absehbare Produktionen sein. Große Studios werden konventionellere Erlebnisse wie Autorennspiele oder Kriegsspiele mit nie gekannter Authentizität bewerben und aus der Independentszene werden Erfahrungen kommen, die verrückter und kurzlebiger, aber dafür umso erfrischender sind.

Werden Sie zum Taucher in der Tiefsee, springen Sie wie Baumgartner aus der Stratosphäre, erleben Sie die großen Schlachten der Ritterzeit und fliegen Sie an Bord eines Doppeldeckers in die Schrecken des ersten Weltkriegs. Und mit den Jahren, wenn Softwarehersteller Erfahrung sammeln konnten, die Hardware immer ausgefeilter ist und die Verbreitung immer teurere Projekte lohnend macht, werden schließlich Weltensimulatoren auf den Markt gebracht. Ein "World of WarCraft" oder ein "Grand Theft Auto" für die virtuelle Realität werden den Weg zur V-World und zur Matrix oder wie auch immer diese heutigen Hirngespinnste heißen, bereiten.

Paradigmenwechsel

Diese virtuellen Welten werden Videospiele weit bedeutender machen, als sie es 2014 sind. Stellen Sie sich die Möglichkeiten in 20 oder 30 Jahren vor, wenn Darstellungstechniken Fotorealismus erreicht haben und diese VR-Headsets vielleicht sogar schon Gerüche simulieren können. Und früher oder später wird auch die Trennung zum Gehirn aufgelöst werden und Simulatoren Zugänge zu den Schaltzentren unseres Nervensystems haben.

Das sind heute Zukunftsfantasien, die jedoch klar machen, welcher Wandel hier bevorsteht. Vergessen Sie das VR-James-Bond-Spiel oder das Sci-Fi-Epos zum Mittendrinsein oder das Tennismatch mit Phil aus Kalifornien und den Klassenraum und die Harward-Vorlesung in der Wolke. Das sind alles offensichtliche Chancen. Doch VR wird noch weit extremere Anwendungen erlauben. Ein Mann könnte in den Körper einer Frau schlüpfen und im "Second Life" Sex mit einem Mann haben. Ein Erwachsener könnte zum Kind werden und die Welt wieder aus einem Meter Höhe betrachten. Eine Frau könnte wie eine Aileen Wuornos Rot sehen und zur Serienmörderin werden.  

Der Konzern sieht alles

Egal, ob dunkle oder friedfertige Fantasien, ich will Sie nur darauf hinweisen, wie persönlich diese Erfahrungen eines Tages sein könnten. Für manche Menschen wird die virtuelle Realität reale und unerreichbare Lebensträume erfüllen. Sie werden auf dem Mars leben können oder das Leben eines Mafiabosses führen, ohne aus dem Bett aufstehen zu müssen. VR wird zu einem unheimlich mächtigen Medium werden, einer Plattform, mit der alles "realisierbar" ist.

Für mich als aufgeregt Hände reibenden Fan ist dies trotz des absehbaren Suchtpotenzials nicht beängstigend. Ich fürchte mich allerdings jetzt schon vor allem, was hinter den digitalen Kulissen wartet. Facebook, Sony, Microsoft oder ein noch gigantischeres Firmenkonglomerat werden hinter all diesen Träumen und Fantasien stehen. Mit jeder VR-Erfahrungen, der ich verfalle, werden Konzerne mehr Einblick in meine tiefsten größten Wünsche haben. Überlegen Sie sich nur, wie viel Facebook heute schon über uns weiß und weshalb Sie ausgerechnet diese Werbung in Ihrer Timeline sehen. Lassen wir Dystopien wie "The Matrix" aus dem Spiel, stellen Sie sich einfach vor, wie viel Sie von sich Preisgeben werden, wenn Sie dabei sind, Ihre Träume zu verwirklichen.

Das Ende eines Traumes

Wenn Konzerne und zwangsläufig Behörden meine virtuelle Existenz überwachen werden, wie frei werde ich dann in V-World wirklich sein können? Ich träume vom Unvorstellbaren und will mich in der Fantasiewelt nicht mit den gesellschaftlichen Konventionen der Realität auseinandersetzen müssen.

Doch eben hier unterscheidet sich der Traum von der Realität. Ich will alles und jeder sein in V-World, aber ich werde auch Teil eines virtuellen Überwachungsstaates sein. Ich werde meine Fantasien offenlegen in dem Bewusstsein, dass jemand Fremder zusieht und irgendwann alles gegen mich verwendet werden könnte. Ich kann den Sonnenaufgang dieser neuen Zeitrechnung kaum erwarten, werde ein Verfechter dieser Technologie- und Medienrevolution sein und warne bereits vor der Dämmerung. Mein Leben lang träumte ich schon von der Utopie Caprica und fürchte mich. (Zsolt Wilhelm, derStandard.at, 29.3.2014)