Stephan Hermlin (li.) und Hermann Kant (re.) mit Erich Honecker beim "X. DDR-Schriftstellerkongreß" (1987).

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Zur Erinnerung: In dem von Josef Bichler geführten Interview mit Klaus Wagenbach aus Anlass des 50-Jahr-Jubiläums von dessen Verlag hatte Wagenbach harsche Worte für den Literaturkritiker Karl Corino gefunden, der seinerseits in seinem Buch "Außen Marmor, innen Gips" (erschienen 1996) den Wagenbach-Autor Stefan Hermlin kritisch aufs Korn genommen hatte. Wir publizieren hier nun eine Replik Corinos auf Wagenbach.

In der Geschichte des Wagenbach-Verlags ist jenes über den Fall Hermlin gewiss eines der sinistersten. Es zeigt, dass der Verleger Wagenbach auch im Jahr des goldenen Jubiläums nichts begriffen hat und dass diese Realitätsverweigerung allmählich nur noch mit Senilität entschuldigt werden kann.

Ich hatte in den 1960er-Jahren Hermlins Leutnant Yorck von Wartenburg erstmals gelesen und diesem Text über die Hinrichtung eines Widerständlers eine sentimentale Anhänglichkeit bewahrt, auch als ich längst begriffen hatte, nach welchem Muster diese Erzählung gestrickt war, nämlich nach der Vorgabe von Ambrose Bierce' Abenteuer am Owl Creek. Zum 80. Geburtstag des Autors sendete ich sie im Literaturprogramm des Hessischen Rundfunks Frankfurt als Hommage und veröffentlichte in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel mit dem mir angemessen erscheinenden Respekt, verschwieg allerdings nicht, es gebe nach den Hinweisen in Alfred Kantorowiczs Deutschem Tagebuch berechtigte Zweifel an Hermlins Spanien-Kämpferschaft. Im Übrigen nahm ich den offiziellen Lebenslauf für bare Münze, ohne zu bedenken, es sei ein ernstes Indiz für weitere Fälschungen, wenn jemand bei einem so bedeutenden Punkt seiner Biografie log.

Im Spätwinter 1996 stieß ich bei der Rezension der Gesammelten Erzählungen Hermlins auf eine verwirrende Unklarheit. Die Lexika, Literaturgeschichten, Nachworte, Klappentexte etc. nannten drei verschiedene Zeitpunkte für seine Flucht aus Frankreich in die Schweiz: 1941, 1942 und 1944. Ich wandte mich an das Schweizerische Bundesarchiv in Bern und erhielt statt einer Antwort unverlangt einen Mikrofilm mit der kompletten Flüchtlingsakte Hermlins. Es stellte sich heraus. Das einzige Datum, das nicht genannt wurde, war das richtige. 1943. Aber nach der Lektüre dieser Dokumente war vor allem klar: Hier kollabierte die Biografie eines Schriftstellers, und jede weitere Recherche bestätigte es.

Praktisch kein Detail stimmte: die Herkunft der Mutter (angeblich Engländerin), das großbürgerliche Milieu ("Ich habe fast so etwas wie eine Proustsche Existenz geführt. Ich wurde von Privatlehrern unterrichtet, ich lernte Geige spielen, ich hatte Reitpferde, Bücher, Autos zu meiner unbeschränkten Verfügung"), die ordengeschmückten Heldentaten des Vaters im Ersten Weltkrieg, das teure Internat in der Schweiz à la Zuoz, das Abitur, das Leben im Untergrund während der Nazizeit bis 1936, der Tod des Vaters im KZ, die Spanienkämpferschaft, der Tod des Bruders als englischer Jagdflieger, die Mitgliedschaft in der Résistance usw. usf. Alles Lug und Trug - wobei ein System der kompletten Täuschung aufgebaut worden war.

Die literarischen Texte, die Äußerungen in Interviews, die daraus gespeisten Verlautbarungen Dritter bildeten einen Kosmos der Illusionen. Ich machte es mir deshalb zur Regel, alle Informationen aufeinander zu beziehen und zu verfolgen, wie aus Anspielungen in der Literatur, aus Antworten in Gesprächen, aus Behauptungen in Nachworten und Klappentexten, in Lexikon-Artikeln scheinbar Fakten wurden.

Ein schönes Beispiel für die Kunst der Insinuation ist Hermlins spätes Buch Abendlicht. Es trägt wohlweislich und listigerweise keinerlei Gattungsbezeichnung. Wagenbach und Standard- Autor Bichler missachten diese Verweigerung eines Genre-Etiketts und sprechen völlig ungedeckt von einem Roman.

Die Umgehungsstrategie Hermlins zielte aber auf etwas anderes: Er rechnete auf die "Idiotie" der Leser, und die Rechnung ging auf. Die gesamte Kritik in der DDR (Therese Hörnigk, Hans Kaufmann, Ursula Reinhold, Klaus Werner, Sebastian Kleinschmidt, Dieter Kliche) las das Abendlicht als Autobiografie, der Tenor im Westen bei Hans Mayer und Reinhard Lettau war nicht anders. Unter dieser Prämisse prüfte ich das Werk und kam zu dem Schluss, es bestehe aus freien Fantasien mit gelegentlicher Wirklichkeitsberührung. Mir ist eine solche Methode aber Wagenbach zufolge offenbar nicht erlaubt, auch wenn ich zu einer ähnlichen These kommen würde, Abendlicht sei allenfalls ein Roman.

Eine solche Bezeichnung durch den Autor hätte freilich die heroische antifaschistisch-kommunistische Glorie verblassen lassen. Der Mann der Résistance, der per Kommando-Unternehmen auf Befehl de Gaulles aus Frankreich ausgeflogen werden sollte, der Bruder, der als draufgängerischer Jagdpilot über dem Kanal abgeschossen wurde - alles nur halbstarke Phantasmen? Wie peinlich. Der Eintritt mit 16 in die KPD? Belegt ist nur, durch die Schwester und den Jugendfreund Eric Hobsbawm, dass Hermlin damals dem sozialistischen Schülerbund angehörte. Als die Verfolgten des Nazi-Regimes VVN 1957 den Fall Hermlin prüften, stellten sie fest, das Leben im kommunistischen Untergrund und eine Auswanderung im Auftrag der KP 1936 seien nicht nachweisbar, eine Ordensverleihung sei daher abzulehnen.

Und so könnte man endlos fortfahren, immer unter Beibehaltung der Trennschärfe zwischen Fiktion und Faktum, die Wagenbachs mürbem Kopf so entschieden abgeht.

Ich werfe Hermlin nicht vor, "dass er verschwiegen hat, dass seine Frau vergewaltigt worden ist von irgendeinem französischen Faschisten oder so", sondern ich bilde in meinem Buch ihren Totenschein der Gemeinde Albi vom 29. 9. 1941 ab und zitiere Hermlins Aussage gegenüber den Schweizer Behörden, seine Frau sei an einer Unterleibsoperation gestorben. Dies als Widerlegung des - von wem immer in die Welt gesetzten und von Hans Mayer kolportierten - Gerüchts, diese Juliette Brandler sei deportiert worden und im KZ umgekommen. Sie ist es in der Tat ebenso wenig wie Hermlins Vater, der nach England fliehen konnte und dort 1947 starb. Es empörte Überlebende wie Arno Lustiger zu Recht, wenn jemand Angehörige wahrheitswidrig in die Millionen Toten der Konzentrationslager einreihte, um Eindruck zu schinden.

Für Wagenbach scheint eine derartige Ruchlosigkeit kein Problem zu sein - so wenig wie der Umstand, dass Hermlin mit seiner Erzählung Die Kommandeuse ein übles Stück SED-Propaganda zum 17. Juni 1953 lieferte: der Volksaufstand ein Werk westlicher Agenten und ehemaliger KZ-Kapos. Arme Erna Dohrn, die die DDR als weiblichen Sündenbock köpfen ließ. Seit dem Ende der DDR und der Öffnung der Akten weiß man: Diese Guillotinierung war ein veritabler Justizmord. Ein solches publizistisches Schmierenstück wie Die Kommandeuse sechs Jahre nach der Wende ohne Zusatz und ohne Selbstkritik neu zu drucken, wie es Wagenbach damals getan hat, - das ist zynisch und in der Tat das Charakteristicum eines "souveränen Verlags".

Seither sind wieder 20 Jahre vergangen, und alles in allem ist Hermlins Verleger noch immer nicht auf dem Kenntnisstand der Stasi von Dezember 1956. Damals schrieb Markus Wolf persönlich den verblüffenden Satz, die Tatsachen in Hermlins Leben entsprächen nicht der Wahrheit. (Klaus Wagenbach, Album, DER STANDARD, 29./30.3.2014)