Mein Innsbrucker Kollege Josef Christian Aigner hat eine TV-Dokumentation über eine südkoreanische Familie gesehen, die ihre Kinder gnadenlos zu schulischen Höchstleistungen antreibt. Dies hat ihn so erzürnt, dass er in heiligem Zorn einen Kommentar  verfasst hat, in dem er das gesamte schulische Elend dieser Welt dem Pisa-Projekt der OECD anlastet. Da ist die Rede von "kindermisshandelnden Machthabern" (der Schulverwaltung), "seelenlos gemachten, staatlich vergewaltigten Reproduktionsmaschinen toten Wissens" (Schulkindern) und "unmenschliche Leistungszuchtanstalten" (Schulen); man wundert sich, dass zur Illustration dieser düsteren apokalyptischen Visionen nicht Boschs Jüngstes Gericht beigefügt war.

Leider beruht Aigners Entrüstung auf einem fundamentalen und für seine Argumentation fatalen Irrtum. Er scheint zu glauben, Pisa habe weltweit einen pädagogisch nicht zu rechtfertigenden schulischen Leistungsdruck bewirkt. Mitnichten. Hätte er sich auch nur ein bisschen über Pisa kundig gemacht, hätte er festgestellt, dass Pisa nicht, wie er meint, jährlich stattfindet, sondern nur alle drei Jahre, und dass in Österreich wie in den anderen 65 an Pisa teilnehmenden Ländern jeweils nur ein kleines repräsentatives Sample von Schülern an diesen Tests teilnimmt.

Von den etwa hunderttausend österreichischen 15-Jährigen nahmen an Pisa 2012 gerade einmal 4756 Kinder teil. Es ist rätselhaft, wie Herr Aigner zur Meinung kommen kann, dass ein anonymisierter Test, an dem eine kleine Zufallsauswahl von Kindern ein einziges Mal in ihrem Leben teilnimmt und der ohne jegliche persönliche Konsequenz für ihre Noten und ihr schulisches Fortkommen ist, eine "staatliche Vergewaltigung" bedeutet.

Pisa ist ein Instrument des Monitorings des Schulsystems auf nationaler Ebene, mit dem sich Bildungspolitik und Schuladministration vergewissern, inwiefern in bestimmten wichtigen Lernfeldern die erwarteten Lernziele tatsächlich erreicht werden. Was in der massenmedialen Fokussierung und Reduktion von Pisa auf die nationale Platzierung im Leistungsranking leider meist ignoriert wird, ist die Fülle von Daten, die Pisa über die Testergebnisse hinaus liefert: über das Wohlbefinden von Schülern und Lehrern in der Schule, über die Freude am Lesen, über die Beziehungen von Schule und Elternhaus - alles wichtige Befunde für die Verbesserung der schulischen Lebensqualität.

Zu Südkorea: Ja, es stimmt, dass dort wie in anderen ostasiatischen Ländern ein - aus europäischer Sicht - beängstigend hoher schulischer Leistungsdruck herrscht. Aber er hat mit Pisa so gut wie nichts zu tun. Er stammt vielmehr von dem Bestreben, die rigorose Aufnahmsprüfung einer "guten" Uni zu bestehen, von deren Absolvierung man sich eine erfolgreiche Berufskarriere verspricht.

Wie die Dokumentation drastisch gezeigt hat, begnügen sich südkoreanische (auch japanische und chinesische) Eltern nicht mit dem schulischen und häuslichen Lernen, sondern sie schicken ihre Kinder zusätzlich in (oft sehr teure) private Paukinstitute, die nach dem Unterricht bis in die späten Abendstunden besucht werden. Spitzenplätze japanischer, südkoreanischer und chinesischer Schüler bei Pisa sind, so befremdlich es klingen mag, ein "Nebenprodukt" der Vorbereitung auf die Aufnahmsprüfungen der Unis.

Es gibt noch weitere Gründe für diese in allen ostasiatischen Ländern bestehende "Lernobsession": die hohe konfuzianische Wertschätzung von Lehren und Lernen und der Institution Schule; ein Arbeitsethos, das von Ausdauer und Anstrengungsbereitschaft geprägt ist, sowie ein "großzügiger" Umgang mit dem Phänomen Zeit, der es ermöglicht, dass ostasiatische Kinder sehr viel mehr Lernzeit und weniger Freizeit haben als europäische oder amerikanische Kinder.

Die Doku hat sich auf die in der Tat bekümmernden Auswüchse des Ehrgeizes einer koreanischen Familie gestürzt. Es wurde "anekdotische Evidenz" präsentiert, zu der man eine Menge Kontextinformation haben muss, um sie zu verstehen und davon verallgemeinern zu können. Während meiner Studienbesuche in Japan habe ich mich auch für die pädagogische "Schattenwirtschaft" interessiert. Während einer Gastprofessur in Hiroshima wohnte ich neben einer "Juku", einem großen privaten Lerninstitut. Ich konnte die Schüler beobachten und hatte nicht den Eindruck, dass sie sich widerwillig zur Selbstausbeutung schleppten.

Im Laufe der Monate kam ich mit etlichen ins Gespräch. Als ich einmal mein Bedauern ausdrückte, dass manche von ihnen dreimal pro Woche, oft auch am Samstag von 19 Uhr bis 22 Uhr, Mathe oder Englisch büffeln mussten, sagten sie: Ist alles nicht so arg, wir wollen schließlich alle bei den Universitätsaufnahmsprüfungen möglichst gut abschneiden. Pisa war für sie nichts anderes als eine schöne Stadt in Italien. (Karl Heinz Gruber, DER STANDARD, 29.3.2014)