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Erinnerungen an die Opfer im Genozid-Gedenkmuseum in Kigali. Vor 20 Jahren begann das dreimonatige Massaker. 

Foto: AP / Ben Curtis

Jahrelang war Ruanda für die französische Armee und Politik ein Tabu. Ein parlamentarischer Untersuchungsbericht sprach Frankreich von jeder Mitschuld am Völkermord frei, der sich nun zum 20. Mal jährt. Der Bericht belastete indirekt den jetzigen Präsidenten Ruandas, Paul Kagame, der darauf die diplomatischen Beziehungen seines Landes zu Paris abbrach. Heute weiß man, dass der französische Milizionär Paul Barril die Hände im Spiel hatte, als das Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana, eines Hutus, am 6. April 1994 abgeschossen wurde. Das war der von langer Hand geplante Startschuss zum Genozid von 800.000 Angehörigen der Tutsi-Minderheit und gemäßigten Hutus. 

Der Streit zieht sich bis heute. Erst am Wochenende warf Kagame Frankreich (und Belgien) vor, bei der "politischen Vorbereitung" des Völkermords eine "direkte Rolle" gespielt zu haben. Paris sagte seine Teilnahme an den Gedenkfeiern zuerst ab - schickte dann aber doch einen Vertreter. 

Vor allem hatte Frankreich die ruandische Armee und die alliierten Hutu-Milizen – die nachmaligen Völkermörder – militärisch ausgebildet. Umstritten ist einzig noch, ob Paris von den Ausrottungsplänen wusste oder ahnte. Der damalige Präsident François Mitterrand wollte sicher nicht einem Völkermord Vorschub leisten; aber er half bewusst Fanatikern und Rassisten, bloß weil sie frankofon waren und ein Vordringen der Tutsi-Rebellen aus dem anglofonen Uganda verhindern wollten. 

Erklärbar ist die folgenschwere Blindheit Frankreichs nur mit dem absoluten Vorrang, den Mitterrand der Verteidigung der postkolonialen Einflusszone in West- und Zentralafrika einräumte. Das ehemals deutsche und belgische Ruanda war keine französische Kolonie gewesen, aber seit den Siebzigerjahren eng an Frankreich gebunden. Analog zur Faschodakrise von 1898 lautete der Frontverlauf: Frankofonie gegen Commonwealth. 

Hilfe für die Mörder 

Im Juni 1994, zweieinhalb Monate nach Beginn des Völkermordes, lancierte Mitterrand in Ruanda die Operation "Turquoise". Offiziell geschah dies, um dem Morden Einhalt zu gebieten. Laut Augenzeugen halfen Frankreichs Soldaten aber zuerst den Hutu-Schergen, sich über die Grenze ins damalige Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) abzusetzen und im Schutz der Flüchtlings­lager neu zu formieren. 

In Frankreich leben heute wohl noch mehr als hundert dieser Täter. Das behaupten jedenfalls Alain und Dafroza Gauthier, ein ruandisch-französisches Paar, das seit 1994 Hutu-Täter aufspürt. Im März verurteilte ein französisches Gericht erstmals einen Drahtzieher des Genozids, Pascal Simbikangwa, zu 25 Jahren Haft. Das Urteil erging nicht zufällig kurz vor dem 20. Jahrestag des Genozids, als wollte Frankreich der Welt beweisen, dass es heute auf der Seite der Opfer steht. 

Erstmals sprechen französische Soldaten öffentlich – wenn auch anonym – über ihren Turquoise-Einsatz. Sie hätten Befehle ausgeführt, ohne sie zu verstehen, sagte vor Tagen ein Offizier der Zeitung Le Monde. In Bisesero etwa, wo 800 Tutsis umkamen, griffen die Franzosen erst drei Tage nach ihrer Ankunft ein. Ein Hauptmann erzählte, die französischen Soldaten hätten nachher stundenlang geduscht – "bis wir nicht mehr unterscheiden konnten, ob der Geruch des Todes von außen kam oder im Inneren steckte."  

Frankreichs Armee bestreitet weiter jede Mitschuld an der fatalen Entwicklung, die zum Völkermord führte. Zugleich erklärte der neue Generalstabschef Pierre de Villiers diese Woche: "Wenn wir in Zentralafrika eingegriffen haben, dann genau um ein neues Ruanda zu verhindern."  Ende 2013 lancierte François Hollande in der Zentralafrikanischen Republik eine Truppenoperation namens Sangaris, um die (diesmal nicht ethnischen, sondern religiösen) Streitparteien zu trennen. 

"Vorgenozidäre Stimmung"  

Zuvor hatte der französische Geheimdienst vor einer "vorgenozidären Stimmung"  in der Hauptstadt Bangui gewarnt. In Paris schrillten die Alarmglocken lauter als anderswo, was auch auf die schuldverbrämte Erinnerung an Ruanda zurückzuführen ist. Sangaris, nur wenige Monate nach der erfolgreichen französischen Operation in Mali lanciert, ist nicht unumstritten; die muslimische Minderheit warf den Franzosen zuerst vor, sie ergreife einseitig Partei für die Christen und habe einen entsprechenden Machtwechsel durchgesetzt. 

Doch Sangaris ist nicht Turquoise. Bei aller Kritik an dem postkolonialen Ansatz der Operation ist Frankreich diesmal anzurechnen, dass seine Soldaten die mordenden Milizen wirklich zu entwaffnen suchen. Damit retten sie das Leben zahlloser Zivilisten, während die internationale Gemeinschaft tatenlos zuschaut oder den Franzosen verschämt logistische Hilfe leistet. "Ohne Sangaris würde die muslimische Gemeinschaft in Zentralafrika heute nicht mehr existieren" , erklärte der Österreicher Volker Türk kürzlich nach einer Erkundungsmission des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 7.4.2014)