Es gäbe keine Indizien für einen geplanten Mord an Dollfuß, sagt Bauer.

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Dollfuß-Gedenkstein im Marmorecksalon im Bundeskanzleramt.

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Wien - Am 25. Juli 1934 drangen SS-Männer als Bundesheersoldaten und Polizisten verkleidet in das Bundeskanzleramt ein, um einen Umsturz in Österreich zu erzwingen. Bisher ging man davon aus, dass Adolf Hitler nichts oder nur wenig von den Plänen wusste. Nach Angaben des Wiener Historikers Kurt Bauer deuten Quellen aber darauf hin, dass Hitler den sogenannten Juliputsch sogar befohlen haben und der Tod von Kanzler Engelbert Dollfuß ein Unfall gewesen sein könnte.

"Der Juliputsch ist eindeutig von Hitler ausgegangen", behauptet Bauer. Am Donnerstag (10.4.) präsentiert er sein im Residenz Verlag erschienenes Buch "Hitlers zweiter Putsch". Dort will er anhand bisher nicht analysierter Einträge im Tagebuch von Joseph Goebbels nachgewiesen haben, wie Hitler in die Pläne des Juliputsches verstrickt gewesen sei. In seinen Erinnerungen schildere Goebbels eine Zusammenkunft zwischen Hitler und den wichtigsten Drahtziehern des Juliputsches in Bayreuth. "Das ist der Missing Link, der der Forschung bisher gefehlt hat", so Bauer.

Die Tagebücher Goebbels waren für Bauer Ausgangspunkt, um bereits bekannte Quellen neu zu bewerten. Ab 1923 hatte Goebbels regelmäßig Tagebuch geführt und insgesamt rund 7.000 handgeschriebene Seiten und 50.000 diktierte Seiten in Maschinenschrift angesammelt. Zu Kriegsende wurden die Tagebücher auseinandergerissen, ein Teil verschwand in Moskauer Archiven. Erst nach der Wende wurde der vollständige Text in Russland entdeckt und nach und nach ediert. 

Unbeabsichtigter Kanzlermord

Bauer will nun aus Tagebuchfragmenten rekonstruiert haben, das die Geschehnisse des 25. Julis bisher falsch dargestellt worden seien: So habe es sich beim Tod von Kanzler Engelbert Dollfuß nicht um Mord, sondern um ein Missgeschick gehandelt. "Es gibt keine Indizien dafür, dass der Tod beabsichtigt war. Vielmehr wollte man den Kanzler als Geisel nehmen und seinen Rücktritt bzw. eine Machtübergabe erzwingen." Denn Hitler sei es vor allem um die Konsolidierung seiner Macht gegangen - er sah sich von den anderen europäischen Mächten wie Italien, Frankreich und der Sowjetunion umzingelt, ein zu früher Angriff auf Deutschland während des Aufbaus der Militärinfrastruktur hätte das Aus für seine Pläne bedeutet.

"Der Plan war, das Bundeskanzleramt zu besetzen und die Regierung zugunsten von nazifreundlichen Politikern zum Rücktritt zu zwingen. Offiziell hätte es Neuwahlen geben sollen, Schlüsselministerien wie das Innenministerium sollten von Nationalsozialisten besetzt werden", schilderte Bauer den Ablauf laut seiner Rekonstruktion. Der tödliche Schuss habe sich wahrscheinlich unabsichtlich gelöst, als sich Dollfuß wehrte oder an den Putschisten vorbeidrängen wollte. Darauf würden nicht nur Zeugenaussagen, sondern auch die Art der Schüsse selbst hindeuten. "Nachträglich wurde da viel geschönt und vertuscht", sagte Bauer.

Missverständnis zwischen Hitler und Mussolini?

Den Putschisten sei - ohne jede Vorbedingung - freies Geleit nach Deutschland angeboten worden. "Sobald sie in den Händen der Regierung waren, wollte man dann nichts mehr davon wissen. Das war der Hauptgrund, wieso der Tod von Dollfuß als Mord dargestellt werden musste - so entstand die Dollfuß-Märtyrer-Legende", so Bauer. Die Führer des Putsches wurden hingerichtet. Hitler selbst leugnete, von der Aktion gewusst zu haben und schob die Schuld auf die österreichischen Nationalsozialisten. "Wirklich durchleuchtet wurde der Tod des Bundeskanzlers Dollfuß nie. An einer kriminologisch korrekten Untersuchung war man nicht interessiert", sagt Bauer.

Allerdings stand Österreich zu dieser Zeit unter dem Schutz Italiens - Hitler habe sich also auch mit Benito Mussolini kurzschließen müssen. "Wie Hitler überhaupt auf die Idee kam, in Österreich putschen zu können? Das war vermutlich ein Missverständnis", glaubt der Historiker.

Im Juni 1934 reiste Hitler nach Italien, um dort erstmals mit Mussolini zu sprechen. Die beiden trafen sich in Stra nahe Venedig zu einem Vier-Augen-Gespräch. "Sie unterhielten sich auf Deutsch, da Hitler ja keine Fremdsprache beherrschte", so Bauer. "Und Mussolini glaubte, sehr gut Deutsch zu können." Das könnte auch das Problem gewesen sein - denn Protokolle, Übersetzer oder nachträgliche schriftliche Vereinbarungen gab es keine. "Hitler gewann den Eindruck, Mussolini stimme einem 'Regierungswechsel' in Österreich zu", vermutet der Historiker - umso entsetzter sei er dann gewesen, als der italienische Diktator als Reaktion auf den Putsch seine Truppen an der Grenze zusammenzog. (APA/red, derStandard.at, 7.4.2014)