Auf das Ergebnis der ungarischen Wahlen lässt sich scheinbar einfach reagieren, etwa mit einer Geste herablassender Empörung. Diese hat zwar den Vorteil, sich ein prächtiges, überlegenes Selbstbewusstsein zu verschaffen, aber zugleich das gravierende Manko, zu übersehen, dass wir es nicht nur mit einem - ungarischen - Sonderfall zu tun haben, der sich auf das Psychogramm eines narzisstischen Aufsteigers reduzieren ließe, der nie wieder Wahlen verlieren möchte und sich deshalb mehr und mehr der Figur des Machthabers ähnelt, der jedwede mögliche Gefahr, von der Macht vertrieben zu werden, bannen möchte. Die Geschichte Orbáns, des Machthabers eines gottlob eher kleineren Landes, liest sich wie ein Nachsatz aus Elias Canettis Masse und Macht.

Viktor Orbán ist zugleich Symptom für eine kollektive Befindlichkeit, für ein vielschichtiges Versagen der Linken vor und nach 1989, für eine Haltung, die die fällige kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit durch eine nationalistische Rhetorik übertönen will, und für einen kollektiven patriarchalen Habitus, der niemals reflexiv, aber auch persönlich mit dem historischen Autoritarismus seit Horthy gebrochen hat. Den einen Orbán gibt es nämlich, weil es so viele kleine Orbáns gibt, so wie es viele kleine Putins oder Erdogans gibt. Natürlich ist Orbán so wenig Horthy wie Putin Stalin ist oder Berlusconi Mussolini war. Aber ihre Popularität verdanken all diese Personen nicht zuletzt einem tief in den Körpern steckenden nationalen Minderwertigkeitsgefühl, das jede Kritik an der eigenen Vergangenheit als Einmischung und Kränkung einstuft. Sie profitieren davon, dass ihre Länder von einer Vergangenheit eingeholt werden, die nicht etwa verdrängt, sondern unhinterfragt weiterkolportiert wird, zumeist als Opfergeschichte.

Viele unserer Nachbarn können und wollen nicht mit den alten Erzählungen über die Vergangenheit des armen, gedemütigten Ungarn brechen. Was für den Außenbetrachter - in Gesprächen mit ungarischen Kollegen wird das offenkundig - spezifisch anmutet, ist der Zulauf, dessen sich Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus in den gebildeten, akademischen Schichten und bei Studierenden erfreuen. Ob das nun Opportunismus, alt-neuer Chauvinismus, Hoffnung auf Wohlstand oder echte Gläubigkeit an einen ungarischen Heiland ist, sei dahingestellt. Gegenwärtig ist es für jemand mit jüdischem Familienhintergrund höchst prekär, an einer ungarischen Uni zu unterrichten.

Angesichts der ungarischen Malaise ist es erstaunlich, dass Orbán nach wie vor als einer der Vizepräsidenten ebenjener Europäischen Volkspartei firmiert, die den Kommissionspräsidenten und den Ratspräsidenten stellt. Allein dieser Umstand macht die Angelegenheit zu einer europäischen Agenda, und man mag Spekulationen darüber anstellen, warum der ungarische Autokrat, der Medien und Justiz kontrolliert, Wahlsysteme ohne Common Sense verändert und jedwede gemeinsame Sprache des Dialogs mit seinen politischen Mitbewerbern ablehnt, noch immer ein Repräsentant ebenjener Gruppierung ist, die sich nicht ohne Grund rühmt, das europäische Projekt in die Welt gesetzt zu haben.

Antieuropäische Karte

Opportunismus ist dabei im Spiel, denn ohne Fidesz-Abgeordnete könnte es nach dem Auszug der Tories für die eigene Mehrheit eng werden im Europäischen Parlament. Aber da ist auch unausgesprochen die Verbeugung vor dem politischen Erfolg eines Mannes im Spiel, der intern, soweit es nur geht, auf die antieuropäische Karte setzt, um seine Anhängerschaft politisch in Wallung zu versetzen. Man soll von den europäischen Christdemokraten verlangen, sich von Orbán und seiner Partei zu trennen - die anstehenden Europa-Wahlen wären dafür eine gute Gelegenheit. Es gibt österreichische Wähler, die Jean-Claude Juncker oder Othmar Karas, nicht aber Orbán wählen möchten.

Das Phänomen Orbán ist über Ungarn hinaus erschreckend, kündigt sich darin doch eine politische Alternative zur gängigen zivilgesellschaftlichen "Verfassung" an: eine Führer-Demokratie, in der der Machthaber plebiszitär bestätigt und scheinbar legitimiert wird, in der aber wesentliche Merkmale wie Gewaltenteilung, unabhängige Medien, Machtwechsel der politischen Eliten, Menschen- und Minderheitenrechte oder die Betonung von Gemeinsamkeiten im Spektrum demokratischer Parteien, die sich als Konkurrenten, nicht aber als Feinde verstehen, langsam ausgehöhlt werden.

"National-Sozialismus"

Solche neo-autoritären Systeme könnten für die heutigen europäischen Zivilgesellschaften lebensbedrohlich werden, vor allem dann, wenn sie kurzfristig Erfolge erzielen. Im Falle Orbáns verdanken sie sich einer perversen nationalistischen Adaption linker Rhetorik, im Sinne eines "National-Sozialismus", der das eigene Unglück den fremden Kapitalisten, den ausländischen Banken, der EU, den Nachbarn zuschreibt und diese dann beschränkt, erpresst, mit Sondersteuern belegt oder enteignet. Angesichts der Tatsache, dass die zum Teil verheerenden sozialen Folgen der Weltwirtschaftskrise in vielen europäischen Ländern immer noch wirksam sind, bleibt der Aufstieg von schillernden Orbáns auch andernorts eine fatale Möglichkeit. Schon deshalb darf man den Wahlsieger vom 6. April nicht auf die leichte Schulter nehmen, auch wenn er das triumphale Ausmaß seines Wahlsiegs einem manipulierten Wahlrecht verdankt. Die Antwort auf Orbán ist ein Mehr an europäischem Zusammenhalt. (Wolfgang Müller-Funk, DER STANDARD, 9.4.2014)