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Im August vielleicht schon Präsident: Premier Tayyip Erdogan.

Foto: Reuters

Istanbul - "Geht es jetzt auch gegen das Verfassungsgericht?", fragt Murat Yetkin, ein angesehener liberaler Kommentator. Der türkische Premier Tayyip Erdogan hat die Höchstrichter heruntergeputzt, die in der Blockade von Twitter einen Eingriff in die Freiheit sahen und die Aufhebung verlangten. Man werde dem Urteil folgen, hatte Erdogan erklärt - Twitter ist anders als Youtube nun wieder frei zugänglich in der Türkei - doch er "respektiere" den Spruch nicht: Die Richter hätten ein Urteil für ein amerikanisches Unternehmen gefällt.

Hasim Kiliç, der Chef des türkischen Höchstgerichts, ein konservativer Jurist und praktizierender Muslim, der unter dem früheren Präsidenten Turgut Özal aufstieg und 2007 gegen den Antrag auf ein Verbot von Erdogans AKP Stellung bezog, antwortete freundlich: Der Premier habe wohl eine emotionale Äußerung getan. Aber Gerichtsentscheidungen seien nie national oder auf den Glauben ausgerichtet, stellte Kiliç fest: "Diese Gerichtsurteile sind universell."

"Giftige Sprache"

Wohin die Türkei nach dem neuerlichen Wahlsieg des keinen Widerspruch duldenden Erdogan steuert, fragen sich viele im Land. Zeiten großer Polarisierung habe es immer wieder in der Türkei gegeben, sagt Ilter Turan, ein Politikprofessor und TV-Kommentator, doch eine so "giftige Sprache", wie der Premier sie gewählt habe, sei nie zuvor im Land benutzt worden. Kein Regierungschef habe bisher auch politischen Gegnern gedroht, sie "bis in ihre Höhlen" zu verfolgen.

Im zurückliegenden Kommunalwahlkampf hatte sich Erdogan während eines Auftritts gar über den Tod des 15-jährigen Schülers Berkin Elvan lustig gemacht; er war Anfang März nach neun Monaten im Koma an den Folgen einer Kopfverletzung durch eine Tränengaskartusche gestorben, die auf ihn während der Gezi-Proteste gefeuert worden war. Erdogan nannte den Bub auch einen "Terroristen" und ließ dessen Mutter von seinen Anhängern ausbuhen.

Viel hängt nun davon ab, ob Erdogan sein Amt aufgeben und bei den Präsidentenwahlen antreten will. Die Spannungen, die Erdogan erzeuge, werden mindestens bis zu den Wahlen im August dauern, glaubt Turan; er schließt nicht aus, dass AKP-Politiker ausscheren und eine neue Partei gründen. Andere, wie der Politologe Ayhan Kaya, gehen eher davon aus, dass sich der Premier etwas beruhigen werde. Denn: Um gewählt zu werden, braucht Erdogan - zumindest in der ersten Runde - mehr als die 45 Prozent, die er bei den Kommunalwahlen am 30. März verbucht hatte. Kaya erwartet deshalb einige Signale an die kurdische Minderheit; sie könnte unter Umständen Erdogan unterstützen.

"Nie ein überzeugter Europäer"

Beide Politologen sind skeptisch, was den Fortgang der EU-Beitrittsverhandlungen in diesem Jahr betrifft. "Die AKP und der Regierungschef werden nicht proeuropäischer werden. Erdogan war nie ein überzeugter Europäer. Proeuropäisch würde heißen, offen sein für Rechenschaft abgeben, Transparenz, Kompromisse - alles Eigenschaften, die der Premier keinesfalls hat", sagt Kaya, Leiter des Jean-Monnet-Instituts an der Istanbuler Bilgi-Universität, an der auch Ilter Turan lehrt.

Die Verhandlungen auf türkischer Seite neu anzukurbeln würde nur mehr Kritik aus Brüssel an den jüngsten Schritten der Regierung Erdogan bedeuten, glaubt Turan. Kaya geht angesichts mancher Rufe aus Straßburg und der bayerischen CSU noch weiter. Die türkische Regierungspartei war im stillen Einverständnis mit Europas Konservativen durchaus zufrieden mit den langsamer werdenden Beitrittsverhandlungen, sagt Kaya: "Den Verhandlungsprozess abzubrechen ist genau das, was die AKP will." (Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD, 9.4.2014)