Identitätspolitik in der RS: Dodik und Kusturica ziehen hinüber in einen üppigen Garten.

Foto: Standard/Wölfl

Denkmal des Schriftstellers Ivo Andrić.

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Auch heute sitzen Liebende auf der Brücke, wo man schon vor Jahrhunderten von der einen und von der anderen Seite kommend zusammentraf. "Siehe, Mehmed Pascha, der Größte unter den Weisen und Großen seiner Zeit, erfüllte das Gelöbnis seines Herzens, und mit seiner Fürsorge und seinem Eifer erbaute er eine Brücke über den Drinafluss. Über diesem Wasser, tief und schnellen Laufes, konnten seine Vorgänger nichts erbauen", steht da geschrieben.

Der Fluss Drina ist hier in Višegrad vor allem breit, und die Brücke diente so schon seit dem 16. Jahrhundert als Möglichkeit, auf die andere Seite zu kommen, sie verbindet indirekt Sarajevo und Belgrad, Bosnien-Herzegowina und Serbien, das 15 Kilometer entfernt liegt. Heute kann man die Brücke am besten von einem Kaffeehaus aus sehen, das zum neu errichteten Kultur- und Tourismuskomplex Andrićgrad gehört. Der Regisseur Emir Kusturica hat hier einen neuen Stadtteil entworfen - ein "Freilichtmuseum der Republika Srpska".

Wilder Stilmix

Fertig errichtet sind schon das Kino, in dem durchwegs gute Filme gezeigt werden, das Andrić-Institut zu Ehren des Nobelpreisträgers, das sich links von einem neoklassizistischen Gebäude befindet, die Straße "Mlada Bosna", an der herzegowinische wie auch ein osmanisches Haus stehen, eine mittelalterliche Kirche, die "Zar Lazar", dem mythischen Helden der Schlacht im Jahr 1389 auf dem Amselfeld im Kosovo, gewidmet ist, und eine Orangerie in französischem Stil. In Andrićgrad versucht man historische Ursprünge zu rekonstruieren, die es teils nicht gab, und das für einen Quasistaat, der nie existierte.

Es ist ein wilder Stilmix, den Kusturica in Andrićgrad aufbauen ließ. Und das ist Absicht. Der Regisseur will offenbar Geschichte und nicht nur Geschichten erzählen sowie prägende Persönlichkeiten vorstellen. Die ersten bekannten Gesichter, die man hier sieht, ist jenes des Präsidenten der Republika Srpska (RS), Milorad Dodik, und jenes von Kusturica selbst. Die beiden "starken Männer" der RS ziehen mit ein paar anderen an einem dicken Seil, hinein in einen paradiesischen Garten, wo Schwäne turteln, eine Oma im Apfelbaum Ziehharmonika spielt, ein Kind Blumen sammelt und alles sehr üppig und fruchtbar scheint.

Geschichte als Legitimität

Ein bisschen erinnert das Relief auf dem Kinogebäude an Kunstwerke des Realsozialismus oder Werbung in Nordkorea. Wer an der anderen Seite des Seils zieht, ist nicht zu sehen. "Aber der Wettkampf ist schon gewonnen, die Gegner dieses Projekts sind schon besiegt", erklärt die Dame, die im Buchgeschäft nebenan arbeitet.

Tatsächlich hat nicht nur Andrićgrad seine Kritiker, sondern auch das größere Projekt dahinter: die Republika Srpska, der kleinere Landesteil von Bosnien-Herzegowina, dessen Entstehung eng mit dem Krieg (1992-1995) verbunden ist. Die RS ist ein sehr junges politisches Projekt. "Deshalb geht es in Andrićgrad um die Erfindung einer Geschichtstradition, um sich Legitimität zu geben. Denn der RS fehlt die Anerkennung von außen", erklärt der deutsch-französische Historiker Nicolas Moll, der in Sarajevo lebt. Die Geschichtspolitik, die hier für die RS gemacht werde, habe "vor allem auch den Zweck, sich als 'richtiger' Staat zu profilieren, ohne und gegen Bosnien und Herzegowina", so Moll.

Enge Verbindung zu Serbien

Tatsächlich propagiert Dodik seit Jahren die Sezession der RS und ihre Unabhängigkeit von Bosnien-Herzegowina. Im Krieg noch war es Ziel serbischer Einheiten, die RS aus Bosnien-Herzegowina herauszulösen und Serbien anzuschließen. Viele bosnische Serben, die dafür gekämpft haben, wollen deshalb bis heute nicht Teil von Bosnien-Herzegowina sein. Auch nicht in Višegrad. "Diese Stadt ganz an der Grenze von Bosnien und Serbien war immer in enger Verbindung und in permanentem Kontakt mit allem, was in Serbien stattfand, und ist damit gewachsen 'wie ein Nagel mit seinem Finger'", heißt es in dem Roman "Die Brücke über die Drina" von Andrić.

Andrićgrad, das seit 2011 auf der Halbinsel zwischen der Drina und dem Fluss Rzav entsteht, führt vom 20. Jahrhundert mit der Referenz auf die Bewegung "Mlada Bosna" auf der Hauptstraße hin zum Denkmal von Ivo Andrić. Dann geht es weiter direkt ins 19. Jahrhundert zu einem Monument für den serbischen Nationaldichter Petar II. Petrović-Njegoš, der zwischen dem Hotel und dem Wasserwerk thront, dahinter gelangt man ins Mittelalter zur Zar-Lazar-Kirche, die der Kirche in Dečani im Kosovo nachempfunden ist und auch den "serbischen Helden", die 1389 verstarben, gewidmet ist. Dass bei der Schlacht auf dem Amselfeld sämtliche Balkannationen, auch Albaner, gegen die Osmanen kämpften, wird hier natürlich nicht erwähnt.

"Die Früchte der neuen Zeiten"

"Mit der Kirche für die 'Kosovo-Märtyrer' konstruiert Andrićgrad eine direkte Kontinuitätslinie vom serbischen Urmythos Kosovo-Schlacht über die erfundene Renaissance-Epoche zur Republika Srpska, die damit als die wahre Hüterin des Serbentums und gleichzeitig deren Blüte präsentiert werden soll", erklärt Moll.

"Aber dort neben der Brücke, in der Stadt, die an sie schicksalshaft gebunden ist, reiften die Früchte der neuen Zeiten", schreibt der Dichter Andrić. Mit Ivo Andrić und seiner Zeit hat der in Andrićgrad gezeigte Nationalismus nur am Rande zu tun. "Der moderne Nationalismus wird über die religiösen Unterschiede und über die veralteten Vorurteile triumphieren, und er wird die Leute vom ausländischen Einfluss und der Ausbeutung befreien. Dann wird der Nationalstaat geboren sein", lässt Andrić einen seiner Helden in "Die Brücke über die Drina" sagen. Von Ethno-Nationalismus ist hier nicht die Rede. In Andrićs Denkwelt geht es viel mehr um Freiheit als um Abgrenzung.

Geschichte ohne Okkupation

Heute soll Andrićgrad vor allem Touristen an die Drina bringen. Laut den Angaben auf der Tourismus-Webpage der Stadt geht es aber darum, ein Višegrad vorzustellen, wie es gewesen sein könnte, wenn es bestimmte Epochen wie die Renaissance gegeben hätte, also wie die Stadt hätte aussehen können, wenn sich die Geschichte anders abgespielt hätte. Andrićgrad soll also eine Art Višegrad sein, wie es nach einem für Kusturica idealeren Verlauf der Geschichte ausgesehen hätte. Möglichst ohne Okkupatoren.

Auf der symbolischen Ebene werden die Okkupatoren auch im Gedenkjahr 2014 wieder bekämpft. Kusturica etwa hat vorgeschlagen, dass der Prozess gegen Gavrilo Princip, der Franz Ferdinand und Sophie am 28. Juni 1914 tötete, wieder aufgerollt werden soll. Im Andrić–Institut habe man Unterlagen, mithilfe deren dieser Prozess unterstützt werden könne. Hauptargument von Kusturica ist, dass der Prozess gegen Princip an sich schon widerrechtlich gewesen sei, weil die Okkupation von Bosnien-Herzegowina durch Österreich-Ungarn 1878 und die Annexion 1908 völkerrechtswidrig gewesen seien.

Außenfeind schafft Einigkeit

Diese historische Ungerechtigkeit wird mit heutigen "Ungerechtigkeiten" der ausländischen und inländischen Angreifer gegen die RS in Verbindung gebracht. Der Außenfeind schafft schließlich nach innen Einigkeit. So publizierte Dodiks Partei, die SNSD, kürzlich eine Liste auf ihrer Webpage, die jene anführt, die als "fünfte Kolonne", bezahlt von Ausländern, gegen die Republika Srpska arbeiten würden, um "Unruhen anzustiften und die verfassungsmäßige Ordnung zu untergraben". An erster Stelle wird Transparency International angeführt, gefolgt von der Helsinki-Bürgerversammlung von Banja Luka. Unter den angeblichen Verschwörern sind auch kritische Medien, eine Jugendinitiative für Menschenrechte, eine Veteranenorganisation und einige mit Namen genannte Kritiker des Regimes in Banja Luka.

Andrićgrad soll jedenfalls heuer am 28. Juni, dem serbischen Feiertag Vidovdan und dem hundertsten Gedenktag des Attentats von Sarajevo, fertiggestellt sein und eingeweiht werden. Dann soll auch die Oper "Die Brücke über die Drina" unter der Regie von Kusturica aufgeführt werden. Auch viel Politprominenz wird an diesem Tag erwartet. Dodik selbst will hier mit Vertretern des Staates Serbien quasi als Gegenkonzept zu den Veranstaltungen in Sarajevo des Beginns des Ersten Weltkriegs gedenken. Andrićgrad hat laut Angaben der Stadt etwa 15 Millionen Euro gekostet, 51 Prozent davon hat Kusturica selbst bezahlt, 49 Prozent die Regierung der Republika Srpska. Das benachbarte Serbien zahlt Projekte für das Andrić-Institut.

"Unser Amerika hier"

Zentraler Schauplatz für Andrić bleibt die Brücke, die später im Ersten Weltkrieg von den Österreichern attackiert wurde. Er lässt zwei Liebende zu Beginn des Ersten Weltkriegs zusammenkommen. Glasičanin sagt zu Zorka: "Wenn ich da lebend herauskomme und wenn wir frei sein werden, dann könnte es nicht mehr länger notwendig sein, über das Meer nach Amerika zu gehen, weil wir dann alle unser Amerika hier hätten, ein Land in dem ein Mann hart arbeiten kann und ehrenhaft und gut und frei leben kann."

Man kann nur spekulieren, was der Dichter heute zu dem imaginierten Paradies namens Andrićgrad und der Republika Srpska gesagt hätte. (Adelheid Wölfl, derStandard.at, 12.4.2014)