Ein Trümmerhaufen reiht sich an den nächsten. Zerstörte Häuser erinnern an Kriegsschauplätze in Syrien oder dem Irak. Doch die Aufnahmen, die Anfang 2014 veröffentlicht wurden und seither in sozialen Medien in Ägypten die Runde machen, sollen die Grenzstadt Rafah nach einem Angriff der ägyptischen Armee zeigen.

Der Ort auf der Halbinsel Sinai befindet sich inmitten eines Kampfes zwischen militanten Islamisten und der ägyptischen Armee, die seit Monaten gegen dort ansässige Radikale und Beduinen kämpft.

Blick aus dem All auf die Sinai-Halbinsel. Foto: AP/NASA/File

Während Ägypten immer mehr im politischen und wirtschaftlichen Chaos versinkt, ist auch der Rest des Sinai zwischen die Fronten von militanten Islamisten und ägyptischen Behörden geraten. Hunderte Sicherheitskräfte sind seit der Revolution 2011 auf der Halbinsel durch eine Serie von Angriffen, Bombenanschlägen und Mordattentaten gestorben.

An einer strategisch wichtigen Position zwischen Suez-Kanal und Arabischer Halbinsel gelegen, war der Sinai in jedem Krieg zwischen Israel und Ägypten Schlachtfeld der Armeen beider Staaten. Zwar liegt die Region im Zentrum zwischen Ägypten, Israel, Jordanien, den Palästinensergebieten und Saudi-Arabien, wurde aber trotzdem von den politischen Eliten in Kairo großteils ignoriert. Ägypten hat erst seit dem Friedensvertrag von 1979 wieder von Israel die Kontrolle über das Gebiet erlangt. Genau diese Kontrolle haben die ägyptischen Sicherheitskräfte aber spätestens seit dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak im Februar 2011 verloren. Das Sicherheitsvakuum hat es radikalen Gruppen ermöglicht, hier Fuß zu fassen.

Deren Angriffe richten sich meist gegen wichtige Infrastruktur und die Sicherheitskräfte. Polizeistationen, Checkpoints, Regierungsgebäude und die Gaspipelines zwischen Ägypten und Israel geraten immer wieder ins Visier der Angreifer. Unter der Präsidentschaft von Mohammed Morsi schlitterte die Region noch tiefer ins Chaos.

Timeline: Gewalt am Sinai

Nach dem Sturz der Muslimbrüder ließen die Militärs in Kairo die Situation nicht lange auf sich sitzen: Im Juli 2013 wurde neuerlich eine großangelegte Offensive der Sicherheitskräfte gestartet, die unter anderem dazu dienen sollte, den Waffen- und Menschenschmuggel aus dem benachbarten Gaza-Streifen, der von Israel isoliert und der Hamas regiert wird, zu unterbinden.

Im Visier von Polizei und Armee sind vor allem die Kämpfer der Ansar Bayt al-Maqdis. Die Gruppe ist nach dem Umsturz 2011 entstanden und seither für zahlreiche Anschläge verantwortlich. Jedoch ist bis heute unklar, wer eigentlich hinter den militanten Islamisten steht. Die USA haben die Kämpfer, bei denen es sich vermutlich um Flüchtlinge aus ägyptischen Gefängnissen im revolutionären Chaos, Beduinen und militanten Islamisten aus dem Gaza-Streifen handelt, als terroristische Organisation eingestuft. Dabei ist die Ansar Bayt al-Maqdis zwar die bekannteste, aber lange nicht die einzige militante Gruppe im Sinai.

Seit 2007 kämpft unter anderem die Jaysh al-Umma, seit 2009 die Jund Allah und die Jaljala auf der Halbinsel gegen die Regierung in Kairo und Israel.

Wichtige Gruppen am Sinai

Beduinen

Wie in vielen anderen arabischen Staaten, sind auch in Ägypten die Beziehungen zwischen Beduinen und den Machthabern in Kairo durchwachsen. Die Regierung sieht den Sinai vor allem als Tourismus-Einnahmequelle, wovon auch einige Beduinen-Stämme im Süden profitierten. Viele Beduinen-Stämme fühlen sich von Kairo jedoch vergessen. Einige Stämme im Sinai sind im Menschen-, Waffen- und Drogenschmuggel aktiv, andere wiederum haben sich jihadistischen Gruppen angeschlossen.

Ansar Bayt al-Maqdis

Die Ansar Bayt al-Maqdis ("Unterstützer Jerusalems") ist eine jihadistische Organisation, die für den Großteil der Attentate im Sinai verantwortlich ist. Die Gruppe trat erstmals Anfang 2011 während der Revolution in Erscheinung und steigerte ihre Aktivitäten nach dem Sturz von Präsident Mohammed Morsi im Juli 2013. Waren die ersten Angriffsziele zunächst auf Polizei- und Militärziele im Sinai beschränkt, bekannten sich die Jihadisten in den vergangenen Monaten auch zu Anschlägen in Kairo und auf einen Touristenbus.

Tawhid wa-l-Jihad

At-Tawhid wa-l-Jihad war eine militante Palästinenser-Gruppe, die im vergangenen Jahrzehnt im Gazastreifen und im Sinai aktiv war. Ideologisch stand sie Abu Musab az-Zarqawis irakischem Al-Kaida-Ableger nahe. Zu trauriger Berühmtheit gelangte die Gruppe, nachdem sie Touristen-Ressorts im Süd-Sinai zwischen 2004 und 2006 angriff. Bei den Angriffen starben dutzende Menschen, viele mehr wurden verletzt.

 

 

Trotz der Militäroffensive blieben die Ursachen des Konflikts im Sinai jedoch unangetastet. Nachdem Israel 1982 nach 15-Jähriger Besatzung endgültig aus der Region abzog, wurde die Halbinsel von der Regierung in Kairo fast drei Jahrzehnte lang ignoriert und marginalisiert. Einwohner, viele davon Beduinen, beklagen, sich als Bürger zweiter Klasse zu fühlen. Abgesehen vom Süden der Halbinsel, die in eine Tourismusregion verwandelt wurde, gab es im Sinai kaum Investitionen oder Entwicklungsprojekte. Hoffnungen, dass sich das nach der Revolte 2011 ändern würde, mussten bald einer Ernüchterung weichen.

Wegen hoher Arbeitslosigkeit, grassierender Armut und Perspektivenlosigkeit wandten sich deshalb vor allem viele Beduinen dem Menschen-, Waffen- und Drogenschmuggel zu. Vor allem seit der Gaza-Streifen von Israel aus isoliert wird, ein boomendes Geschäft. Aber auch Entführungen sind zu einem lukrativen Geschäftszweig geworden.

Die Offensive des Militärs, die die Zustände eigentlich verbessern sollten, haben indes das Gegenteil bewirkt. Rigorose Ausgangssperren in manchen Städten haben das geschäftliche Treiben auf der Halbsinsel teilweise zum Erliegen gebracht. Auch die sporadische Abschaltung der Kommunikation schreckt Geschäftsleute und Investoren ab.

Auch abseits urbaner Zentren, ist die Offensive der Militärs spürbar. So gibt es Berichte, dass Olivenfarmen von Sicherheitskräften niedergebrannt wurden, weil befürchtet wurde, sie könnten als Unterschlupf von Extremisten verwendet werden. Ex-Verteidigungsminister und jetziger Präsidentschaftskandidat Abdel Fattah el-Sisi entschuldigte sich bei den Einwohnern des Sinai mit den Worten, die Militäroperationen "können unangenehm für sie sein" und versprach Kompensation. Für viele Bewohner, für die keine Besserung ihrer Lebenssituation in Sicht ist, ein schwacher Trost. (Stefan Binder, derStandard.at, 23.4.2014)