"Nur weil das Kind früher auf die Welt kommt, entwickelt sich sein Gehirn nicht schneller. Diese Wochen und Monate fehlen ihm", sagt Ursula Kiechl-Kohlendorfer, Leiterin der Innsbrucker Universitätsklinik "Pädiatrie II".

Foto: MUI/ C. Lackner

Es herrscht Ruhe auf der Intensivstation. Keine piepsenden Geräte, keine hektischen Ärzte, dieser sterile Geruch, den Krankenhäuser normalerweise haben, wird von dem Duft von Mittagessen überlagert. In den Zimmern stehen mit Tüchern abgedeckte, kleine Bettkästen auf Rädern. Man muss genau hinschauen, um zu sehen, dass sich darin etwas regt. In der von Ursula Kiechl-Kohlendorfer geleiteten Innsbrucker Universitätsklinik "Pädiatrie II" werden Frühgeborene versorgt. Säuglinge, die zum Teil nicht einmal 700 Gramm wiegen und etwas größer sind als eine Handfläche.

Frühgeburten werden in den vergangenen Jahren weltweit immer häufiger. Verantwortlich dafür sind die steigende Zahl künstlichen Befruchtungen und dass Frauen bei der Geburt ihrer Kinder immer älter werden, was statistisch das Risiko an Komplikationen erhöht. Neue Studienergebnisse aus Innsbruck zeigen nun, an welchen Schwächen Frühgeborene leiden - und geben Aufschluss, was Ärzte, Eltern und Politik künftig tun sollten.

derStandard.at: Sie untersuchen Frühchen vom Säuglings- bis ins Kindesalter. Was unterscheidet sie von sogenannten termingeborenen Kindern?

Kiechl-Kohlendorfer: Aktuelle Daten legen nahe, dass Frühgeborene ein höheres Risiko für eine geringere Verarbeitungsgeschwindigkeit haben. Sie sind kognitiv etwas langsamer als termingeborene Kinder. Das ist einer der Gründe, warum sie im Volksschulalter bei Intelligenztests schlechter abschneiden. Außerdem haben wir festgestellt, dass fast jedes vierte frühgeborene Kind, das von uns getestet wurde, eine Rechenschwäche aufweist. Das tun auch jene, die einen normalen Intelligenzquotienten haben. Ebenso treten Lese- und Rechtsschreibschwächen bei Frühchen häufiger auf.

derStandard.at: Was sind die Ursachen dafür?

Kiechl-Kohlendorfer: Man muss sich vorstellen, dass sich das Gehirn außerhalb des Mutterleibes ganz anders entwickelt als innerhalb - bedingt durch eine höhere Sauerstoffkonzentration, Umwelteinflüsse wie Lärm, Licht, Exposition und Schmerz. Wir konnten mittels Magnetresonanztomografie Strukturveränderungen im Gehirn von Frühgeborenen feststellen; bei ihnen entwickeln sich gewisse Hirnregionen anders. Dennoch können wir noch nicht genau sagen, wie es zu diesen Defiziten kommt.

derStandard.at: Es handelt sich hauptsächlich um Entwicklungsprobleme kognitiver Art?

Kiechl-Kohlendorfer: Es kann schon auch zu motorischen Behinderungen kommen. Bei Kindern, die wirklich schwer beeinträchtigt sind, gab es aber meist eine Komplikation in den ersten Lebenstagen. Zum Beispiel eine schwere Hirnblutung.

derStandard.at: Was kann man tun, um die Rechen- und Schreibdefizite später auszugleichen?

Kiechl-Kohlendorfer: Hier ist vor allem wichtig, dass die Eltern wissen, dass diese Entwicklungsdefizite bestehen können, damit sie früh diagnostiziert werden und eine Therapie gestartet werden kann. Frühchen müssen nicht nur während des Intensivaufenthalts betreut werden, sondern über Jahre danach. Unsere Forschung zeigt, dass auf diesem Gebiet künftig mehr getan werden muss, damit Förderung möglich ist.

derStandard.at: Einschulung, Führerschein, Volljährigkeit - Frühgeborene werden all das etwas früher erleben, als es ihrer Entwicklung entspricht. Sollte man eigentlich den Geburtstermin korrigieren?

Kiechl-Kohlendorfer: Nur weil das Kind früher auf die Welt kommt, entwickelt sich sein Gehirn nicht schneller, diese Wochen und Monate fehlen ihm. Wenn man Kinder jedoch in den ersten Jahren entwicklungsneurologisch untersucht, korrigiert man den Geburtstermin ohnehin auf einen errechneten, um das auszugleichen.

derStandard.at: In einer weiteren aktuellen Studie zeigen Sie, was Krankenhäuser zur Entwicklung frühgeborener Säuglinge beitragen können. Was sind Ihre Ergebnisse?

Kiechl-Kohlendorfer: Man kann sagen: Je realitätsnäher einem Frühgeborenen simuliert wird, dass es im Mutterleib ist, desto besser entwickelt es sich sein restliches Leben lang. Im Krankenhaus sollte also ein intrauterines (den Umständen im Mutterbauch entsprechendes, Anm.) Milieu für die Frühchen aufgebaut werden: etwa abgedunkelte Inkubatoren und eine möglichst ruhige Station, um die Reize gering zu halten. Wichtig ist auch, dass sehr früh die Eltern-Kind-Interaktion gefördert wird; durch Besuchszeiten rund um die Uhr und einer stationären Aufnahme der Eltern. Wir konnten zeigen, dass sich Kinder, die so betreut wurden, motorisch besser entwickelt haben.

derStandard.at: Es heißt, dass für Frühchen Muttermilch besonders wichtig ist. Was, wenn die Mutter noch nicht stillen kann?

Kiechl-Kohlendorfer: Muttermilch ist für ein Frühgeborenes wie Medizin. Es ist die beste und artgerechte Ernährung, da das Kind nicht nur eine unreife Lunge, sondern auch einen unreifen Darm hat. Wir animieren die Mutter, so früh wie möglich abzupumpen. Jeder Tropfen ist wertvoll. Ein extremes Frühgeborenes trinkt in seinen ersten Lebenstagen ein bis zwei Milliliter Muttermilch etwa alle drei Stunden. Das sind winzigste Mengen. Ansonsten gibt es auch die Möglichkeit, auf Milchbanken zurückzugreifen, also auf Frauenmilchspenden, da müssen jedoch beide Elternteile einverstanden sein. Und die Milch einer fremden Frau muss infektiologisch untersucht werden wie bei einer Blutspende.

derStandard.at: Gibt es denn eine Schwangerschaftswoche, vor der ein Kind keine Chance hat, wenn es zur Welt kommt?

Kiechl-Kohlendorfer: Die Grenze der Überlebensfähigkeit liegt bei 23 Wochen. Es gibt Kinder, die auch in diesem frühen Alter eine gute Perspektive haben. Generell muss man aber natürlich sagen, je unreifer das Kind bei der Geburt ist, desto höher ist das Risiko, dass es später Entwicklungsverzögerungen oder Schädigungen aufweist.

derStandard.at: Können denn bei optimaler Förderung bis ins Erwachsenenalter alle Defizite ausgeglichen weden?

Kiechl-Kohlendorfer: Für eine große Studie aus Kanada wurde untersucht, wie es Frühgeborenen als Erwachsene geht. Sie zeigt, dass Frühchen, wenn sie die schwierigen Jahre der Einschulung und Schule gemeistert haben, im Erwachsenenalter eine sehr gute Lebensqualität haben können. Außerdem kann ich Eltern beruhigen: Es gibt keine Intensivstation, die ein so gutes Outcome hat wie eine neonatologische. (Katharina Mittelstaedt, derStandard.at, 18.4.2014)