Wien - "Die Kinder hätten ein Recht auf Geborgenheit gehabt", sagt Privatbeteiligtenvertreterin Monika Ohmann im Eröffnungsvortrag über ihre sechs- bis zwölfjährigen Mandantinnen. Doch dieses Recht bekamen sie nicht, wirft Staatsanwältin Dagmar Pulker der Angeklagten Manuela H. vor. Die 38-Jährige muss sich deshalb vor einem Schöffengericht unter Vorsitz von Andreas Böhm verantworten, da sie ihre Kinder vernachlässigt und vor allem nicht verhindert haben soll, dass der Stiefgroßvater sie missbraucht.

Letzteres bestreitet die Angeklagte. "Die Kinder haben mir nie etwas gesagt. Nie!", beteuert sie. "Wann haben Sie dann von den Vorwürfen erfahren?", fragt Böhm. "Als sie im Krisenzentrum waren." Zu beweisen wird der Vorwurf kaum sein: Alle beteiligten Verwandten verweigern die Aussage, auch der wegen des Missbrauchs rechtskräftig verurteilte 58-Jährige.

Die Vernachlässigung gibt Manuela H. dagegen prinzipiell zu. Wenngleich sie offenbar bis heute noch nicht ganz einsieht, was sie falsch gemacht hat.

Sechs gezogene Zähne

Die Fakten sprechen eine deutliche und traurige Sprache. Einem der Mädchen mussten sechs völlig karieszerfressene Milchzähne gezogen werden. Ein anderes hatte nach einer Rauferei einen gebrochenen Ellbogen, der offenbar wochenlang nicht diagnostiziert worden war. Auch Entwicklungsdefizite sollen die Töchter aufweisen, die älteste musste sich ihren Aussagen zufolge um die beiden Geschwister kümmern, da die Eltern oft nur schliefen.

"Die Kinder sind in einer kleinen, dunklen Wohnung voller Zigarettenrauch, Bergen von Mistsäcken und ungewaschener Wäsche aufgewachsen", schildert Opfervertreterin Ohmann plastisch.

H. fühlt sich durch solche Vorwürfe eher beleidigt. "Wir hatten nur einmal im Monat Waschtag, und die Kinder haben viel Gewand gehabt", versucht sie beispielsweise die Wäscheberge zu erklären. Der abgestandene Rauch? "Wir haben schon immer gelüftet, aber im Winter ist es schnell kalt geworden. Und wir heizen mit Strom, das ist auch teuer", lautet die Antwort.

Alle zwei Tage gebadet

Warum in den Horten und Schulen der Kinder gesagt worden sei, die Kleinen seien verwahrlost - schmutzig und ungewaschen? "Vielleicht, weil sie auf den Weg zur Schule noch gespielt haben und in den Matsch gehüpft sind", mutmaßt sie. Auch die Körperpflege sei nicht vernachlässigt worden: "Sie waren alle zwei Tage baden. Als der Boiler kaputt war, habe ich das Wasser sogar auf dem Herd aufgewärmt!"

Wirkliche Bösartigkeit versprüht die Angeklagte H. tatsächlich nicht - vielmehr völlige Realitätsverweigerung und Überforderung. Die Familienverhältnisse sind so kompliziert, dass Vorsitzender Böhm einen Stammbaum in seinem Akt hat. Und trotzdem muss er überlegen, welche Zeugen aufgrund welcher Verwandtschaftsverhältnisse das Recht haben, die Aussage zu verweigern. Der mitangeklagte Lebensgefährte ist aus psychischen Gründen nicht verhandlungsfähig, er soll ebenso wie die Angeklagte mit Gewalterfahrungen aufgewachsen sein.

Jugendamt als Dauergast

"Die Eigenwahrnehmung der Eltern war durchwegs eine andere als die durch die Umgebung", formuliert es eine Mitarbeiterin des Jugendamtes. Fragen bleiben gerade deshalb: Denn die Behörden waren Dauergäste bei der Familie, wie rasch klar wird. Nicht immer scheint man aber die richtigen Schlüsse gezogen zu haben.

Ein Beispiel ist der unbehandelte Ellbogenbruch eines der Mädchen. Eine Sozialarbeiterin wundert sich noch heute, dass der nicht schon im Hort aufgefallen ist. Schließlich habe ihr das Mädchen beim Erstkontakt sofort erzählt, dass ihr die Stelle wehtue. Die Mutter habe auf Nachfrage gesagt, man sei schon im Spital gewesen und warte noch auf einen Röntgenbefund, erinnert sich die Zeugin. Nur: Eine Woche später war der Befund noch immer nicht da, ebenso wenig drei Wochen später. Warum man blind den Angaben der Mutter, sie werde sich darum kümmern, vertraut hat, bleibt unhinterfragt.

Ein Urteil wird nach der Erstattung der Gutachten am Mittwoch erwartet. (Michael Möseneder, derStandard.at, 23.04.2014)