STANDARD: Lassen Sie uns hinter die Kulissen schauen: Was sind die Themen der Führungskräfte unter vier Augen bei Ihnen im Büro?
Tengel: Immer mehr sagen: "Ich will das eigentlich gar nicht mehr, ich kann da nicht dahinterstehen, diese Form der Leadership widerstrebt mir. Wissen Sie keine Alternative für mich?" Es geht sehr oft um die immer größer werdende Dissonanz zwischen dem, wie Professionals in ihrer Funktion agieren, was sie entscheiden, wie sie managen und dem, was sie als Individuen denken und fühlen.
STANDARD: Gefangene in der Entscheidungsmatrix? Profiteure eines Systems, das sie selbst nicht mehr für richtig halten?
Tengel: Wenn der CEO zum Entlassen von einem Drittel der Mitarbeiter im Mercedes mit Flügeltüren fährt, wenn ein Unternehmen für ein Shared-Service-Center intern 150 Leute rekrutiert und nach Budapest versetzt, um gleich danach zu entscheiden, dass das Center doch in New York errichtet wird, dann stellen sich die regionalen Chefs natürlich die Frage: Steht der Mensch im Mittelpunkt oder ist er Mittel, Punkt. Und ihnen wird diese Frage gestellt. Das ergibt in Kombination mit den vielen Umwälzungen in den Arbeitswelten, mit steigendem Druck, erhöhter Komplexität und anhaltender Unsicherheit den Rahmen für einen Trapezakt zwischen Machbarkeit und Ohnmacht. Letztlich geht es darum, zu sehen und mit sich zu verhandeln: Was ist Makroökonomie, also was passiert rund um mich, das ich nicht ändern kann, und was ist Mikroökonomie, was kann und will ich ändern. Es geht um die Selbsterkenntnis, was Macht mit einem macht.
STANDARD: Und wieder sind wir im Problemfeld Führung ...
Tengel: Ja. Führung braucht Meinung und Haltung. Tatsächlich führen aber oft die Falschen. Das sind dann diejenigen, die fachlich stark, lange dabei, durchsetzungsfähig - und vor allem anpassungsbereit sind. Echte Führung braucht soziale Kompetenz, Empathie und Reflexion. Führung wird auch allzu oft nicht wertgeschätzt und passiert somit dann, wenn sonst nichts mehr ansteht.
STANDARD: Kein Wunder, gemessen wird ja meist auch das operative Ergebnis, nicht eine ganz geringe Burnout-Rate ...
Tengel: Führungskräfte - und die Aufsichtsgremien - entwickeln oft ein generelles Erfolgsschema, aus dem sie modulartig schöpfen: wenn - dann. Wenn sich die Ausgangslage ändert, dann versuchen sie, mit noch mehr Anstrengung im selben Muster Erfolge zu erreichen. Es ist ja leichter, neue Ideen zu finden, als von alten loszulassen. Die gewaltigen Marktveränderungen in Kombination mit den neuen Generationen im Arbeitsleben werden diese Führungskultur aber sehr stark ändern.
STANDARD: Was zeichnet gute Manager künftig aus?
Tengel: Sie können die rasant wachsende Komplexität strukturieren. Sie besitzen die Fähigkeit, Technologiesprünge zu bewältigen, und sie genießen gesellschaftliche Akzeptanz. Welche Erwartungen die Gesellschaft und die Stakeholder an Manager haben: Hier sollte die Politik Rahmenbedingungen setzen.
STANDARD: Welche Entwicklung beunruhigt Sie am meisten?
Tengel: Für gesellschaftlich besonders brisant halte ich die Entwicklung zur Zweiklassengesellschaft in Unternehmen: auf der einen Seite eine kleine, sehr flexible und hoch qualifizierte Kernbelegschaft, in die investiert wird. Auf der anderen Seite eine schnell austauschbare große Randbelegschaft in prekären Beschäftigungsverhältnissen als Manövriermasse, in die möglichst wenig investiert wird. Das ist der wahre Sprengstoff. (Karin Bauer, DER STANDARD, 26./27.4.2014)