
Der Portugiese João Ricardo Pedro: "Man muss Lebensjahre opfern, um ein Kunstwerk zu schaffen. Wenn ich an die großen Künstler denke, empfinde ich tiefe Dankbarkeit für das, was sie uns hinterlassen haben."
STANDARD: Ihr Roman beginnt am 25. April 1974, dem Tag der Nelkenrevolution, als die Portugiesen sich von einer jahrzehntelangen Diktatur befreiten ...
João Ricardo Pedro: Ich gehöre zur ersten Generation, die in einem freien, demokratischen Land aufwuchs. Den Roman an dem Tag beginnen zu lassen ist für mich eine Würdigung all der Menschen, die mir diese Freiheit bescherten. Für Portugal war es der wichtigste Tag des 20. Jahrhunderts. Eine lange Diktatur ging friedlich zu Ende. Die portugiesische Kultur wurde von diesem Tag geprägt. Plötzlich fühlten sich die Schriftsteller frei, all das zu schreiben, was sie zuvor nicht hatten schreiben dürfen. Die Literatur erlebte eine ungeheure Bereicherung durch diese Freiheit.
STANDARD: Ihr Roman nützt diese Freiheit so virtuos, dass Rezensenten bezweifeln, dass er das Debüt eines entlassenen Ingenieurs ist.
Ricardo Pedro: Ich war kein guter Ingenieur. Denn ich dachte die ganze Zeit an Literatur. Darum wurde ich wahrscheinlich auch entlassen. Aber das bot mir die Gelegenheit zu schreiben. Der Roman ist mein Debüt, allerdings habe ich immer viel gelesen. Kafka war der Erste, dessen Erzählung Die Verwandlung mir zufällig in die Hände fiel. Dann entdeckte ich die Liebe zu den russischen Schriftstellern. Auch für Proust und Musil begeisterte ich mich und für südamerikanische Schriftsteller wie Márquez und Borges. Und natürlich las ich José Saramago und António Lobo Antunes, die besten Romanciers der portugiesischen Literatur des 20. Jahrhunderts.
STANDARD: Hatten Sie den Roman im Kopf, ehe Sie ihn schrieben?
Ricardo Pedro: Was ich im Kopf hatte, waren Bilder, wie etwa das des Freiheitskämpfers, der mit einem Glasauge auch eine neue Identität bekommt. Einen Plan hatte ich nicht. Ich hatte nur den Wunsch, einen Roman zu schreiben. Welchen, wusste ich nicht. Während ich schrieb, begann der Roman zu entstehen. Erst als ich das Manuskript übergab, wusste ich, welchen Roman ich geschrieben hatte. Der Aufbau ist sehr fragmentiert. Es sind Kurzgeschichten, die miteinander verbunden sind.
STANDARD: Diese Episoden zeichnen sich durch außerordentliche stilistische Vielfalt aus.
Ricardo Pedro: Es gibt verschiedene Arten, etwas darzustellen. Jede Figur hat ihre eigene Handlungsweise, und diese wiederzugeben ist mein Ehrgeiz. Meine Arbeit als Romancier sehe ich darin, den Unterschied zwischen dem, was ich empfinde, und dem, was ich zu Papier bringe, möglichst gering zu halten. Dafür muss ich den jeweils passenden Stil finden. Das führt dazu, dass jedes Kapitel einen eigenen Stil hat.
STANDARD: In der portugiesischen Lyrik, aber auch in der Musik kennt man das wehmütig-sehnsüchtige Gefühl der Saudade. Streckenweise erscheint auch Ihr Roman davon erfüllt.
Ricardo Pedro: Ja, das ist ein starkes Gefühl in Portugal. Wir sind ein Land von Seefahrern, von Menschen, die hinaus in die Welt wollen. Im 16. Jahrhundert war Portugal eines der wichtigsten Länder der Welt. Es hatte beinahe ganz Afrika, Brasilien und Indien unter seiner Herrschaft, dann aber alles verloren. Zurück blieb eine Sehnsucht nach dieser Zeit. Diese verband sich mit Fernweh und unerfülltem Verlangen zu einer Melancholie, die wir Saudade nennen und welche die Menschen prägt. Die Portugiesen neigen zur Traurigkeit. Diese Grundstimmung ist zweifellos in meinem Roman enthalten. Darüber hinaus gibt es eine Traurigkeit all jener Menschen, die Portugal während der Dikta- tur verließen und mit ihren Familien nur brieflich Kontakt halten konnten.
STANDARD: Hintergrund Ihres Romans ist der portugiesische Kolonialkrieg in Afrika. War dieser Krieg, der sich über mehr als zehn Jahre hinzog, das Trauma der Generation Ihres Vaters?
Ricardo Pedro: Unter diesem Trauma leiden die Menschen in Portugal bis heute, nicht nur die ehemaligen Soldaten. Mein Vater war 1962 Soldat in Angola, und auch mein Leben wurde von seinen schrecklichen Erfahrungen überschattet. Kriege verursachen Traumata, die über viele Generationen andauern. Die Erinnerungen lasten auf den Familien. Dieser Krieg in Angola war zudem komplex. Man konnte nicht zwischen Guten und Bösen unterscheiden. Beide Seiten sprachen dieselbe Sprache und hatten dieselbe Religion. Erst mit der Revolution endete der Krieg und Angola, Guinea-Bissau und Mosambik erlangten die Unabhängigkeit.
STANDARD: Ihr Roman enthält viele Anspielungen auf die europäische Geschichte. Welche Rolle spielt Europa für Portugal?
Ricardo Pedro: Portugal ist ein seltsames Land. Es befindet sich an der Peripherie und liegt weit weg von Zentraleuropa. Wir Portugiesen denken manchmal, dass wir gar keine Europäer sind. In Lissabon fühlt man sich eher wie in Nordafrika oder in einer Region von Brasilien. Wien, Berlin, Paris - das ist Europa! Für uns sind das magische Namen. Dennoch haben wir den Wunsch, zu Europa zu gehören. Wir wollen keine Afrikaner oder Brasilianer sein. Aber gleichzeitig fühlen wir den Abstand, der uns von Europa trennt. Das ist eine schwierige Beziehung.
STANDARD: Haben Sie darum Wien und das Kunsthistorische Museum als einen Schauplatz gewählt, um diese Beziehung herzustellen?
Ricardo Pedro: Für mich hat Wien all das, was ich in Lissabon vermisse: Opernhäuser, Konzertsäle, Theater, Museen. Lissabon ist eine arme Stadt ohne kulturelle Tradition. Es liegt am Rand. Wien dagegen ist das Zentrum von Europa und vermittelt ein kosmopolitisches Lebensgefühl.
STANDARD: Einer Ihrer Protagonisten ist ein musikalisches Wunderkind. Sie verbinden Ihre Schilderungen seiner genialen Klavierinterpretationen von Beethoven oder Mozart mit der Frage, ob jemand, der kreativ ist, glücklich sein kann ...
Ricardo Pedro: António Lobo Antunes sagte in einem Gespräch, er würde seine Bücher nicht eintauschen wollen gegen mehr Lebensjahre. Für ihn sind seine Bücher wichtiger als sein Leben. Man muss Lebensjahre opfern, um ein Kunstwerk zu schaffen. Wenn ich an die großen Künstler denke, an Beethoven oder Dostojewski, empfinde ich tiefe Dankbarkeit für das, was sie uns hinterlassen haben. Zugleich spüre ich, dass ihr Leben unglücklich war. Sie verwandten all ihre Energie auf ihr Werk. Eine Begabung kann auch eine unerträgliche Belastung für ein Leben sein. Für mich wirft das die Frage auf, welche Teile meines Lebens ich bereit bin hinzugeben für ein Werk.
STANDARD: Sie sprachen einmal vom Unerklärlichen am Prozess des Schreibens. Was meinen Sie damit?
Ricardo Pedro: Wir wissen nie alles über die Figuren, die wir erfinden. Die Beziehung zwischen dem Romancier und seinen Figuren birgt Geheimnisse und manchmal auch Wunder. Ich denke mir eine Figur aus, gebe ihr einen Namen und stelle fest, dass sie ein Geheimnis vor mir, ihrem Schöpfer, hat. Beim Schreiben fühle ich, dass ich keine Macht über sie habe. Ich kann ihr nicht einfach eine Zukunft erfinden, sie nach meinen Wünschen sterben oder leben lassen. Sie folgt ihrem eigenen Weg. Das ist das Rätsel der künstlerischen Schöpfung.
STANDARD: Ihr Auftritt auf der literarischen Bühne Portugals war ein Paukenschlag. Wie steht es um die gegenwärtige portugiesische Literatur?
Ricardo Pedro: Es gibt wenige Romanciers in Portugal. Wir haben eine Tradition der Lyrik, und es entstehen viele gute portugiesische Gedichte. Die Romantradition ist jung und beginnt sich erst zu entwickeln. Auch die literarische Szene hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Vor zwanzig oder dreißig Jahren kannten die portugiesischen Schriftsteller einander. Ich dagegen bin mit keinem Schriftsteller meiner Generation persönlich bekannt. Jeder schreibt für sich, und wir schreiben alle auf sehr unterschiedliche Weise. Literarische Strömungen sind nicht auszumachen.
STANDARD: "Wohin der Wind uns weht" ist Ihr erster Roman. Planen Sie einen weiteren?
Ricardo Pedro: Ja, und ich hoffe, ihn dieses Jahr zu beenden. Ich weiß nicht, ob ich die nötige Leidenschaft und Traurigkeit in mir habe. Denn ich bin ein glücklicher Mensch. Aber ich möchte noch mehr Romane schreiben und Schriftsteller sein. (Ruth Réné Reif, Album, DER STANDARD, 26./27.4.2014)