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Die damaligen Staatschefs Tschechiens, Deutschlands und Polens überqueren anlässlich des EU-Ostbeitritts 2004 den Grenzfluss Neiße.

Foto: Reuters/Herrmann
Grafik: Standard

Selten hat ein Regierungschef zum Auftakt des EU-Vorsitzes seines Landes im Europaparlament so viel Applaus bekommen wie Donald Tusk Anfang Juli 2011. In seiner Rede vor dem Plenum in Straßburg hatte der gelernte Historiker - mitten in die gerade voll ausgebrochene Eurokrise hinein - an den langen Weg Polens in die Freiheit erinnert; von Anfängen und Träumen der Gewerkschaft Solidarnosc erzählt; von der Verhängung des Kriegsrechts 1981; der Befreiung 1989; gewaltigen wirtschaftlichen Problemen in den 1990ern, von den Veränderungen bis zum EU-Beitritt am 1. Mai 2004. Dann kam er zu einem Schlüsselsatz: "Denen, die sich nicht mehr daran erinnern, möchte ich noch einmal sagen, dass die heutige Krise für alle Europäer, die Jahrzehnte ihres Lebens in Not und Unterdrückung leben mussten, zwar eine wichtige, nicht aber eine alles entscheidende Herausforderung ist und sich nicht mit der vergleichen lässt, die wir dank der solidarischen Haltung ganz Europas seinerzeit überwanden."

Knapp drei Jahre später gilt dieser Satz von Tusk noch immer, vielleicht sogar noch stärker. Die entscheidende Herausforderung, von der er sprach, liegt für die Union aber plötzlich nicht mehr im wirtschaftlichen Bereich - auch wenn die Arbeitslosigkeit EU-weit auf dem Rekordniveau von im Schnitt 12,1 Prozent liegt und es mit wenigen Ausnahmen kaum nennenswertes Wachstum gibt. Zur größten Bewährungsprobe wurde in den vergangenen Wochen die sicherheitspolitische Bedrohung, die von den Spannungen in der Ukraine und vom Verhalten Russlands nach seinem Zugriff auf die Krim ausgeht.

Ukraine ändert alles

Sollte es in dem riesigen Land mit mehr als 40 Millionen Einwohnern keine friedliche Entwicklung, sondern Bürgerkrieg geben (den ein prominentes Mitglied der EU-Kommission "nicht mehr ausschließt"), hätte das enorme Auswirkungen auf benachbarte EU-Staaten. Osteuropa wäre mit einem Schlag wieder ins Zentrum der europäischen Politik gerückt - wie auch der Nato.

Die sicherheitspolitische Herausforderung durch Russland wird in der Allianz als wichtiger angesehen als mögliche ökonomische Verwerfungen. Damit hatte bis vor Monaten in Brüssel und den Hauptstädten kaum wer gerechnet. Das zehnjährige Jubiläum der großen EU-Erweiterung vom 1. Mai 2004 wollte man in Ruhe begehen.

Damals waren Malta und Zypern, vor allem aber acht Länder aus Ost- und Ostmitteleuropa zu EU-Mitgliedern geworden: Polen, die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien. Rumänien und Bulgarien sollten 2007 folgen.

Seither gab es in fast allen diesen "neuen EU-Ländern" ein wirtschaftliches Auf und Ab, große innenpolitische Spannungen wie in Tschechien oder zuletzt in Ungarn unter Premier Viktor Orbán. Im Westen sorgte man sich nach der Grenzöffnung über eine Zunahme von Zuwanderung und Kriminalität.

Aber auf der breiten EU-Bühne spielten die Osteuropäer (von denen nur Slowenien, Estland, Lettland und die Slowakei der Währungsunion angehören) keine sehr bedeutende Rolle. Euro- und Schuldenkrise konzentrierten sich auf den Süden der Union.

Mit der Ukraine-Krise schieben sich nun wieder die Fragen nach der politischen Union, nach der europäischen Sicherheitsarchitektur in den Vordergrund, die vor der Erweiterung der EU (und der Nato) eine große Rolle spielten. Osteuropa ist wieder groß da. (Thomas Mayer aus Brüssel, DER STANDARD, 26.4.2014)