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Graphen, das aus einer einzigen Schicht Kohlenstoffatomen besteht, war das erste in einer Reihe von neuen zweidimensionalen Super-Werkstoffen.

Illu.: Corbis

Die Geschichte mit dem Tixo ist legendär: Die Physiker Andre Geim und Konstantin Nowoselow von der Universität Manchester nutzten die pickige Oberfläche im Jahr 2004, um ein Material herzustellen, das ihnen 2010 einen Physiknobelpreis einbringen sollte. Mit einem gewöhnlichen Klebeband lösten sie eine Schicht von einem Stück Graphit. Den Vorgang wiederholten sie so lange, bis nur noch eine Atomlage übrig blieb - Graphen (mit Betonung auf dem e). Das dünnste Material der Welt war zwar schon 1948 entdeckt worden, jedoch wusste niemand, wie man es isolieren sollte.

Graphenflocken aus dem Mixer

Zehn Jahre nach dem Erfolg von Geim und Nowoselow griffen Forscher vom Trinity College in Dublin auf ein vergleichbar simples Rezept zurück: Sie nahmen einen leistungsstarken Küchenmixer und füllten ihn mit Graphitpulver, Wasser und Geschirrspülmittel. Das verblüffende Ergebnis nach einigen Minuten im Mixer: Winzige Graphenflocken hatten sich abgespalten und schwebten im Wasser, wie die Wissenschafter vorige Woche im Fachblatt Nature Materials berichteten.

Auf einen Industriemaßstab übertragen, könnte auf diese Art ein Kilogramm lupenreines Graphen pro Tag produziert und in Form von Pulver oder flüssiger Dispersion zum Aufsprühen auf den Markt gebracht werden, hofft der britische Chemikalienkonzern Thomas Swan, der die Studie finanziert hat. Jedenfalls ist mit dieser Lowtech-Methode ein weiterer Schritt zur billigen Massenproduktion von Graphen getan.

Hauchdünn und stahlhart

Seit dem Nobelpreis für die Graphen-"Erfinder" ist ein veritabler Hype um das "Wundermaterial" ausgebrochen. Es besteht aus einer einzigen Schicht von Kohlenstoffatomen, die bienenwabenförmig angeordnet sind. Trotz seiner quasi zweidimensionalen, hauchdünnen Struktur ist es zugfester als Stahl, härter als Diamant und dabei biegsam und transparent. Es leitet Strom und Wärme bei Raumtemperatur eine Million Mal besser als Kupfer oder Silizium, ist für Gas und Wasser jedoch undurchlässig. Kurz gesagt: Es ist der Stoff, aus dem die Träume der Elektronikindustrie sind, der Hoffnungsträger der Materialforschung.

Die Anwendungsmöglichkeiten sind enorm vielfältig: Darunter Touchscreens, die sich zusammenrollen lassen; Akkus, die ewig halten; Fensterscheiben, die mit unsichtbaren Solarzellen beschichtet sind; graphenverstärkte Kunststoffe für federleichte Flugzeuge; Computerchips mit einer vielfachen Leistungsfähigkeit von Silizium. Oder aber auch: dünnere und zugleich reißfestere Kondome - ein Projekt der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung. Die EU wählte die graphenbasierte Forschung im Vorjahr als einen von zwei Schwerpunkten in ihr Flaggschiff-Programm. In den nächsten zehn Jahren fließt eine Milliarde Euro in diverse Projekte.

Biegsame Displays

So weit die Theorie. In der Praxis ist das Wunder noch nicht eingetreten. Zwar gibt es eine Reihe von Herstellern der atomdünnen Superfolie, die Qualität lässt aber noch zu wünschen übrig. Elektronikriesen wie Samsung und IBM pumpen Unsummen in Prototypen von biegsamen Displays und Graphen-Schaltkreisen - doch für größere Würfe scheint der Forschung zuletzt die Luft ausgegangen zu sein. "Die Forschung am einfachen Graphen hat ihren Zenit bereits überschritten", ließ Andre Geim im Juli 2013 in der Zeitschrift Nature wissen.

"Es würde mich wundern, wenn alle Erwartungen erfüllt werden können", sagt Ivica Kolaric. Der Leiter der Abteilung "Funktionale Materialien" am Fraunhofer-Institut in Stuttgart hält am 5. Mai beim Tech Forum 2014 in der Wirtschaftskammer in Wien einen Eröffnungsvortrag zum Thema Graphen. Kolaric forscht seit Jahren an nanoskaligen Materialien wie Kohlenstoffnanoröhrchen und Fullerenen - kugelförmig angeordnete Kohlenstoffatome. "Ich gehe davon aus, dass auch Graphen ein Nischenprodukt bleiben wird", stellt er ernüchtert fest.

"Es hat sich schon etwas getan in den letzten zehn Jahren, insbesondere was die Herstellungsmethoden betrifft", relativiert Thomas Müller, Graphenforscher an der Technischen Universität Wien, der auch am Graphen-Projekt der EU beteiligt ist. Es gebe nun Ansätze, die ultradünnen Filme zerstörungsfrei dorthin zu transferieren, wo sie hingehören - eines der bisherigen Haupthindernisse. Damit wären bald einfache Anwendungen wie Scheibenheizungen oder Materialverstärkungen in Flugzeugen möglich. "Aber Graphen-Chips liegen noch in weiter Ferne", räumt Müller ein.

Alternative Materialien

Das liegt unter anderem daran, dass sich das superleitende Graphen nicht direkt als Halbleiter eignet. Also machten sich Forscher auf die Suche nach Alternativen - und wurden bei anderen zweidimensionalen Materialien fündig. "Bornitrid ist etwa ähnlich reißfest, aber kann als Isolator eingesetzt werden. Das Neueste ist Phosphoren, das aus einer Schicht Phosphor besteht", schildert Müller. "Langsam stellt sich heraus, dass alles, was es in der 3-D-Festkörperphysik gibt, auch in 2-D existiert. Diese Materialien sind der neue Boom."

Einer der Shootingstars in der 2-D-Welt ist Wolframdiselenid - eine Schicht Wolfram-Atome, die oberhalb und unterhalb mit Selen-Atomen verbunden sind. Erst im März haben Müller und sein Team erstmals gezeigt, dass sich daraus extrem dünne, flexible Solarzellen anfertigen lassen. Außerdem experimentieren die TU-Forscher mit Werkstoffen im 2-D-Format, die Licht abgeben. "Verschiedene Materialien strahlen Licht in verschiedenen Wellenlängen, also Farben, aus. So könnten biegsame Displays entstehen, die anders als organische Halbleiter nicht altern", sagt Müller.

Hochleistungsbatterien

Auch Ivica Kolarics Abteilung forscht hauptsächlich mit Graphen-Hybriden. In einem EU-Projekt entwickeln die Fraunhofer-Forscher Elektroden für sogenannte Superkondensatoren, die in Hochleistungsbatterien und elektrischen Energiespeichern eingesetzt werden können. "Wir nutzen die spezifische Oberfläche von Graphen: Ein Gramm hat etwa 2700 Quadratmeter. Dadurch können weitaus mehr Ionen andocken." Schon nächstes Jahr soll ein energieautarkes Modul für Elektroautos präsentiert werden.

Potenzial für Graphen sieht Kolaric auch bei Membranen. Letzte Woche erst stellten Forscher der ETH Zürich in Science eine zweischichtige Nanomembran mit winzigen Poren vor, mit der sich Wasser und Gasgemische filtrieren lassen - dünner geht es nicht mehr. Allerdings arbeiteten die Schweizer mit einem Filter, der kleiner als ein Hundertstelquadratmillimeter ist. "Die Herausforderung ist nach wie vor, die mikroskopischen Eigenschaften von Graphen in die makroskopische Welt zu bringen", betont Kolaric.

Vor derselben Hürde stehen auch die neuen Verwandten des Zauberstoffes: "Wir sind jetzt dort, wo wir 2005 mit Graphen waren", sagt Müller. Und fügt hinzu: "Wir arbeiten noch mit Klebeband." (Karin Krichmayr, DER STANDARD, 30.4.2014)