Im neuen Jahresbericht von Freedom House ist der EU-Kandidat Türkei auf den Status "unfrei" abgerutscht. Platz 134 von 197 Ländern, deren Pressefreiheit die US-amerikanische NGO bewertet; und 17 Plätze minus innerhalb nur eines Jahres. "Wir gehen rasch auf ein totalitäres System zu", stellte der türkische Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu am Freitag dazu fest.
Am Tag nach der Polizeiblockade in Istanbul am 1. Mai und vor dem internationalen Tag der Pressefreiheit griff der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei CHP die Regierung vor ausländischen Journalisten hart an. "Wir beobachten Dinge, die wir nicht einmal unter der Militärherrschaft gesehen haben", sagte Kiliçdaroglu. Er spielte dabei auf den Kauf unter anderem von der Tageszeitung Sabah und des Fernsehsenders ATV an, für den Regierungschef Tayyip Erdogan und sein Sohn Bilal offenbar einen Kreis von Geschäftsleuten anhielten, Geld beizusteuern.
"24 Stunden Gehirnwäsche"
"Keine Militärregierung in der Türkei hat für sich selbst einen Medienpool organisiert", sagte Kiliçdaroglu. "24 Stunden am Tag verabreichen sie der Öffentlichkeit eine Gehirnwäsche."
Der sozialdemokratische Parteichef sah darin einen der Gründe für den neuerlichen Sieg der Regierung bei den Kommunalwahlen im vergangenen März - trotz Korruptionsvorwürfen und Gezi-Protesten. Die CHP habe ein besseres Ergebnis erwartet, räumte Kiliçdaroglu ein: Sie kam im Durchschnitt landesweit auf knapp 28 Prozent; Erdogans AKP auf 46 Prozent.
Alle demokratischen Staaten hätten dieselben Bedenken wie die CHP angesichts der Entwicklung der Türkei, sagte Kiliçdaroglu. Die EU rief er auf, die Beitrittsverhandlungen nun nicht zu stoppen, sondern vielmehr neue Kapitel zu öffnen. Erdogan wolle, dass die Verhandlungen eingefroren werden. "Er will nicht zur EU. Er will, dass die Türkei ein Land des Nahen Ostens wird."
Ermittlungen eingestellt
Die Istanbuler Staatsanwaltschaft hat indes am Freitag die Einstellung ihrer Ermittlungen wegen des Korruptionsverdachts regierungsnaher Geschäftsleute und von vier Ministersöhnen bekanntgegeben. Gegen drei Staatsanwälte und einen Richter, die im Dezember 2013 die Ermittlungen eingeleitet hatten und mittlerweile versetzt wurden, gibt es nun ein Untersuchungsverfahren.
Ein regierungstreuer Staatsanwalt versuchte diese Woche, Kiliçdaroglu trotz seiner parlamentarischen Immunität zur Einvernahme vorzuladen. Bilal Erdogan hatte den Oppositionschef verklagt. (Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD, 3.5.2014)