STANDARD: Wie haben Sie die Snowden-Dokumente aufgearbeitet?
Ball: Wir verbrachten 17-Stunden-Arbeitstage eingepfercht in einem kleinen Raum. Wir versuchten systematisch, die Teile der Geschichten zusammenzufügen. Viele der Dokumente sind sehr langweilig. Es ist ein regelrecht detektivischer Prozess, damit durchzukommen. Es kann bei 1500 Dokumenten pro Tag auch langweilig werden, selbst wenn man Top-Secret-Unterlagen liest.
STANDARD: Was war die größte Überraschung für Sie?
Ball: Es ist schwierig, eine Sache herauszupicken. Der Bericht mit dem größten Effekt war die Verschlüsselungsgeschichte. Die Fakten, dass Nachrichtendienste unsere Daten haben und damit unsere Privatsphäre unterminieren und unseren Glauben, unsere Daten seien sicher. Einen großen Einfluss hatte auch die Geschichte, wie Angela Merkel ausgespäht wurde. Es gab auch den Bericht, wie der britische Geheimdienst Webcams ausspioniert, auch von Leuten, wenn sie nackt sind. Vielleicht war das die größte Überraschung für mich.
STANDARD: Welche Folgen hat der Fall Snowden für den Journalismus?
Ball: Wir können jetzt alle im Newsroom mit Verschlüsselungen umgehen. Vorher hat das niemanden interessiert. Jetzt denken wir darüber nach: Was heißt die Überwachung für unsere Quellen und Kontakte? Sicherheit wird viel wichtiger genommen. Das ist eine gute Entwicklung. Die britische Regierung hat den Guardian unter Druck gesetzt. Wir müssen alle in Europa über solche Entwicklungen alarmiert sein. Großbritannien ist eigentlich eine etablierte Demokratie. Was da passiert, kann überall geschehen.
STANDARD: Welche Form von Druck und Zensur gab es?
Ball: Wir wurden sehr stark ermuntert, das Material zu zerstören. Wir wurden nicht gerade gezwungen, uns wurde aber mit juristischen Schritten gedroht. Wir haben deshalb alles in die USA gebracht, wo es das First Amendment gibt, das Pressefreiheit garantiert. Die US-Behörden haben nicht geglaubt, dass wir die Berichte tatsächlich veröffentlichen. Der Druck hat auch dazu geführt, dass wir Geschichten mit unserer Konkurrenz teilen. Durch Expertise von Medien wie der New York Times konnten wir die Berichterstattung verbessern.
STANDARD: In der EU müssen alle Verbindungsdaten sechs Monate gespeichert werden. Der EU-Gerichtshof hat dies gekippt. Wie verhält sich Europa im Vergleich zu den USA?
Ball: Wir wissen durch unsere Berichterstattung über die NSA-Dokumente, was das alles über uns enthüllen kann. Es ist gut, dass Straßburg das verstanden hat. Das ist eine gute Entwicklung. Das europäische Schema ist nicht so invasiv wie das amerikanische. Das waren regierungsbasierte Daten, das ist keine Routine. Die Gefahr besteht, dass die EU-Richtlinie in der Praxis nicht wirklich entschärft wird.
STANDARD: Glauben Sie, dass wirklich nur die Verbindungsdaten, nicht jedoch auch der Inhalt gespeichert wird?
Ball: In Amerika können sie auch E-Mails speichern. Aber die Verbindungsdaten sagen schon viel aus. Wenn man feststellen kann, Ihr Telefon ist zwischen ein und drei Uhr früh neben dem von jemand anderen und das zweimal in der Woche, dann kann man annehmen, da gibt es etwas.
STANDARD: Arbeiten Sie noch immer Snowden-Dokumente auf?
Ball: Wir schauen noch immer Dokumente durch. Aber wir kommen vermutlich an das Ende der großen Welle. Glenn Greenwalds Buch kommt bald heraus, und er verspricht Neuigkeiten darin. Es gibt weniger Scoops, aber wir werden weitermachen, weil wir die Reformen, die angestoßen wurden, weiter antreiben wollen. Wir müssen uns auch um die Folgen kümmern.
STANDARD: Ist Snowden ein Held der Pressefreiheit?
Ball: Ich glaube, Snowden hat viel getan für die Privatsphäre und freie Meinungsäußerung. Er löste eine Debatte aus, ob wir diese Art von Überwachungsgesellschaft wollen, wie viel freie Meinungsäußerung ist akzeptabel, haben wir ein Recht auf ein Privatleben? Es ist zu hoffen, dass diese Debatte zu einem guten Ende führt.
STANDARD: Snowden ist noch in Russland. Wenn sein Asyl ausläuft, wird ihn ein EU-Staat aufnehmen?
Ball: Das wird nicht passieren, und das ist eine Schande. Wenn ich raten soll, dann nehme ich an, er bleibt noch länger in Russland. In einer idealen Welt würde er in die USA zurückkehren können. Aber wenn man sieht, was mit Bradley Manning passiert ist, so wird das nicht geschehen. (Alexandra Föderl-Schmid aus Perugia, DER STANDARD, 5.5.2014)