Simon Wachsmuths Installationen "Der Neunte Tag" in der ehemaligen Synagoge in St. Pölten und ... 

Foto: Arye Wachsmuth

... und "Parabasis" im Salzburg-Museum: Die abstrakten "Landkarten" entstanden ursprünglich aus den blinden Flecken eines Freskos des 15. Jahrhunderts.

Foto: Salzburg Museum, Peter Laub

St. Pölten/Salzburg - Jeder kennt das Bild. Durch das geöffnete Fenster dringt ein steter Luftzug und spielt mit dem Vorhang - ganz sachte, ganz sanft. Noch zarter, wellenartiger - vielleicht eher so, wie über den See streichelnder Wind - bewegt sich auch der schwere dunkelblaue Wollfilz und der daran befestigte weiße Seidenmoiré in der ehemaligen Synagoge in St. Pölten. Das ganze Jahr hindurch, Tag und Nacht - dafür sorgt ein Gebläse.

Es ist nur ein symbolischer Vorhang, den Simon Wachsmuth vor der Nische mit dem Toraschrein installiert hat. Denn der Raum hinter den Stoffbahnen ist leer - seit 1938. In der Reichspogromnacht wurde die 1912/13 im Jugendstil errichtete Synagoge komplett verwüstet.

Und auch nach dem Krieg und dem Abschluss der Restaurierungen in den 1980er-Jahren blieb die Nische leer. Seit der Shoah hat sich nie wieder eine jüdische Gemeinde in St. Pölten etabliert. Sie blieb ausgelöscht. Heute beherbergt das Gebäude das Institut für jüdische Geschichte Österreichs.

Mit dem Wind wird nun also eine unsichtbare Kraft, ein flüchtiges Material zum gestalterischen Mittel. Wind heiße im Hebräischen "rûach", erzählt der 1964 in Hamburg geborene, aber in Tel Aviv aufgewachsene Wachsmuth im Standard-Gespräch. Oder Atem. Oder, wie im Alten Testament, auch Geist Gottes. "Rûach" beschreibt also das nicht Sichtbare, ein Nichts, das erst im anderen - Objekt, Subjekt - zu erkennen ist. Was ist das Nichts?", fragt Wachsmuth.

In seiner äußerst minimalen, visuell ebenso an Malewitschs Schwarzes Quadrat wie an Malereien Barnett Newmans anknüpfenden, permanenten Installation Der Neunte Tag verweisen die beiden Textilien - das eine hell, festlich, das andere dunkel, lichtschluckend - auf ein Dahinter, das nicht mehr existiert. Die Leerstelle ist also kein Nichts. Sie füllt sicht mit der Erinnerung an drei Vernichtungen jüdischer Lebenswelten: die Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem (Bajith Rishon) durch die Babylonier und die Zerstörung des Zweiten Tempels (Bajith Sheni), derer man nach dem jüdischen Kalender am Neunten des Monats Av gedenkt (2014 fällt er auf den 5. August), sowie die Pogrome der Nationalsozialisten am 9. November 1938.

Die Zeit hält an

Mit "innehalten" wird der die Hektik des Alltags unterbrechende Moment der Reflexion, der Akt des stillen Gedenkens oft auch umschrieben. Genau das passiert an jenen beiden Tagen: Das Säuseln des Winds verstummt. Das Zeitkontinuum bricht ab.

Simon Wachsmuth, der in Wien studiert hat und 2003 mit dem Otto-Mauer-Preis ausgezeichnet wurde, beschäftigt sich oft mit den Erinnerungen, die Orten und Objekten eingeschrieben sind. Ihn interessiert die Art und Weise, wie Geschichte erzählt wird; von wem und vor allem mit welcher Intention bestimmte Geschichtsbilder konstruiert werden: So beleuchtete er etwa 2007 für die Documenta 12 die rein europäische Perspektive auf persische Geschichte.

Im Salzburg Museum ist nun (bis 8. 6.) die Installation Parabasis zu sehen, die ihren Ursprung in einer Arbeit für die Istanbul Biennale 2011 hat. Da brachte Wachsmuth die - aus christlicher Sichtweise erzählte - Kreuzlegende mit der Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei zusammen. Der in Nikomedien, dem heutigen Izmit, östlich von Istanbul geborene Konstantin der Große hat demnach seinen Rivalen in der entscheidenden Schlacht um die Herrschaft im römischen Westreich nur schlagen können, weil sein Feldzeichen mit dem Christogramm verziert war.

Die Legende vom Wahren Kreuz wird auch in dem, leider fragmentierten Freskenzyklus von Piero della Francesca (Mitte 15. Jhdt.)  in der Kirche San Francesco in Arezzo dargestellt. Abermals sind es die Leerstellen, die Wachsmuth mit Bedeutung auflädt. Er isoliert diese Fragmente, diese "blinden Flecken" aus der bildlichen Erzählung und überträgt sie mit schwarzer Farbe auf Leinwände/Wandflächen. So werden sie zu einer symbolischen Landkarte, die auf unbekanntes Terrain, auf die Ungereimtheiten dieser speziellen Geschichte, aber auch auf die Historie im Allgemeinen verweist. Als Teil einer seither weiter entwickelten, assoziationsreichen Installation mit Fotografien und Objekten, dienen die abstrakten Bilder Wachsmuth dazu, Themen der politischen Gegenwart anzusprechen und den Betrachter über kulturelle Traditionen der Türkei räsonnieren zu lassen. - Vielschichtige Arbeiten, die in die Pflicht nehmen. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 6.5.2014, Langfassung)