Wenn wir heute Experten fragen, was die größten Errungenschaften der EU sind, kommen meist zwei Antworten. Erstens die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums durch die Verwirklichung der vier Freiheiten (Freiheit des grenzüberschreitenden Personen-, Kapital-, Güter- und Dienstleistungsverkehrs) und die Liberalisierung geschützter Märkte. Zweitens die Friedenssicherung mit der längsten Periode ohne militärische Großkonflikte in Europa. Ein drittes großes Projekt, die Wirtschafts- und Währungsunion, hat durch die Krise viel an Strahlkraft verloren.
Die Friedenssicherung wird von der jüngeren Generation als Selbstverständlichkeit hingenommen, auch wenn es vor weniger als 20 Jahren noch einen blutigen Bosnienkrieg und einen bewaffneten Konflikt im Kosovo gegeben hat. Die Ukraine-Krise sollte einen Weckruf darstellen. Statt den aktuellen Konflikt um die Ukraine genüsslich als Beispiel für die Schwäche Europas auszuschlachten, sollten wir Folgendes bedenken.
Ein Potenzial für ernste Konflikte und bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen EU-Ländern und zwischen EU-Ländern und Drittstaaten ist auch heute noch (traurige) Realität, etwa wenn es darum geht, tatsächlich oder vermeintlich bedrohte nationale Minderheiten außerhalb des eigenen Landes zu schützen oder verlorene Gebiete zurückzugewinnen. Man denke an Ungarn oder Serbien. Gäbe es keine EU, wäre bei jedem solchen Konflikt die Gefahr einer feindlichen Blockbildung innerhalb Europas und einer ernsten Eskalation gegeben.
Dank EU werden unterschiedliche außenpolitische Positionen der Mitgliedsstaaten in eine gemeinsame, wenngleich oft verwaschene Position zusammengeführt. Die schiere Größe der EU, was Wirtschaftskraft und Bevölkerungszahl betrifft, gibt allerdings auch halbherzigen Deklarationen und Sanktionsbeschlüssen ein großes Gewicht.
Im aktuellen Ukraine-Konflikt tragen hoffentlich die enge wirtschaftliche Verschränkung des ökonomischen Schwergewichts EU mit Russland und persönliche wirtschaftliche Interessen der russischen Führungsschicht dazu bei, extreme Eskalationen zu verhindern. Aus diesem Konflikt müssen wir aber auch Lehren für die Zukunft der Europäischen Union ziehen.
Die nur in Ansätzen vorhandene gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik der EU muss rasch weiterentwickelt und vergemeinschaftet werden. Europa braucht in diesem Bereich einen Integrationssprung, dessen Akzeptanz durch gleichzeitige Kompetenzrückverlagerungen an die Mitgliedsstaaten im Sinne der Devise "Weniger Europa im Kleinen, mehr Europa im Großen" möglich erscheint. Weiters muss die Abhängigkeit Europas von russischen Gaslieferungen durch eine Diversifizierung der Bezugsquellen und Transportinfrastruktur (inkl. Flüssiggas) und durch die Entwicklung eigener Gasförderung (Schiefergas) reduziert werden.
Hinsichtlich der Ukraine sollten verständliche strategische Langfristinteressen Russlands ernstgenommen werden, etwa durch die Vereinbarung einer Bündnisfreiheit der Ukraine und eine großzügige Regelung des Status der russischen Minderheit. Die Eingliederung der Krim in den russischen Staatsverband ist wohl nicht mehr ohne militärische Intervention, die keine Seite will, rückgängig zu machen und muss daher als Faktum hingenommen werden.
Zu Gegenleistungen bringen
Worum es geht, ist, Russland auf diplomatischem Weg dazu zu bringen, als Gegenleistung die territoriale Integrität des verbleibenden Staatsgebietes der Ukraine zu garantieren, an der Stabilisierung der Ostukraine mitzuwirken und die wirtschaftlichen Beziehungen zur Ukraine aufrechtzuerhalten. Ein solches Ergebnis wird wohl nur vor der Kulisse der Androhung glaubwürdiger und auch für Europa kostspieliger Sanktionen erreichbar sein.
Was das alles mit den EU-Wahlen zu tun hat? Die Ukraine-Krise hat die Bedeutung des europäischen Integrationsprojektes für eine gedeihliche und friedliche Zukunft Europas besser vor Augen geführt, als es die aufwändigste Informationskampagne hätte leisten können. Nur ein einiges und starkes, von hoher Bürgerzustimmung getragenes Europa wird auf der internationalen Bühne ernst genommen. Am 25. Mai finden die Wahlen zum europäischen Parlament statt. Nehmen wir unser demokratisches Wahlrecht wahr, konzentrieren wir uns bei dieser Wahlentscheidung auf die großen europäischen Herausforderungen und vergessen wir für einen Augenblick Glühbirnen, Ölkännchen und unseren aufgestauten innenpolitischen Frust. Um diesen abzuladen, gibt es österreichische Landtags- und Nationalratswahlen. (Erhard Fürst, DER STANDARD, 6.5.2014)