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Drei Morde, mehrere tödliche Unfälle in nur einem Monat: In der Türkei werden nun Strafen für Verbrechen an Kindern verschärft.

Foto: dapd/Vadim Ghirda

Es sind grausige Geschichten und sie kamen Schlag auf Schlag innerhalb eines Monats: der vierjährige Bub Caner, der in einer Scheune in der türkischen Mittelmeerprovinz Aydin gefunden wurde, mit aufgeschlitzten Hals und Handgelenken, und der im Spital stirbt. Der neun Jahre alte Mert, der in der osttürkischen Stadt Kars in ein Auto steigt und später tot auf einer Müllhalde liegt. Der dreijährige Pamir, der verlorengeht und den seine Eltern nach einem Tag Suche - offenbar ein Unfall - ertrunken im Schwimmbecken eines Nachbarhauses in Istanbul finden.

Und schließlich Gizem und Umut: das sechsjährige Mädchen, das brutal von einem Cousin ermordet wird, und der neunjährige Bub, der erst nach vier Tagen tot in einem Brunnen gefunden wird.

Männliche Gewaltkultur

"Ist unsere Gesellschaft krank geworden?", fragt die liberale türkische Tageszeitung Taraf. Von Eltern, die keine Zeit mehr für ihre Kinder haben, ist die Rede. Von der jüngsten Generation der Türken, die vernachlässigt wird, und vor allem von der männlichen Gewaltkultur, deren Opfer nicht länger nur Frauen, sondern auch Kinder werden. Der Fall der sechsjährigen Gizem aus einer Stadt in der Provinz Adana schockiert die türkische Öffentlichkeit besonders. Weil Gizems Eltern ihm die Heirat mit der älteren Schwester versagten, wollte sich ein 20-jähriger entfernter Verwandter an der Familie "rächen".

Ende April entführte er Gizem vom Spielplatz, fesselte sie mit Klebeband und fuhr sie außerhalb der Stadt in die Nähe eines Friedhofs. "Ich habe die Augen geschlossen und auf sie eingestochen", soll der mutmaßliche Mörder bei der Vernehmung ausgesagt haben. Der Mann goss Benzin über das schwer verletzte Mädchen und zündete das Kind an.

Ein Kapitalverbrechen nannte Regierungschef Tayyip Erdogan den Mord an Kindern. Die Wiedereinführung der Todesstrafe sei nicht geplant, sehr wohl aber härtere Strafen für die Mörder, kündigte der Premier an. Der Gesetzentwurf war im Handumdrehen fertig. Von 30 auf 39 Jahre wird die Höchststrafe für Verbrechen an Kindern angehoben, erklärte Vizepremier Bülent Arinç. Die Fristen für vorzeitige Haftentlassungen, etwa bei Sexualverbrechen an Kindern, würden verlängert.

Konservative Familienpolitik

Der Schutz von Kindern und Familie ist Verfassungsrecht in der Türkei, auf das der konservativ-religiöse Premier immer pocht: bei der Verschärfung der Internetzensur, beim Verbot des nächtlichen Alkoholverkaufs, bei der Pflichtkontrolle von Schwangeren durch staatliche Ärzte in den Wohnvierteln. Doch die Wirklichkeit in der Türkei, wo Babys und Kinder in der Öffentlichkeit auch von Fremden stets gehätschelt und beschenkt werden, kann auch ganz anders aussehen, stellen die Türken nun wieder fest.

14.000 Kinder sind in den letzten fünf Jahren verlorengegangen, hieß es in einem Bericht der Gendarmerie; 834 hat die Polizei nicht mehr gefunden. Knapp eine Million Kinder arbeiten in der Türkei laut der Internationalen Arbeitsorganisation ILO - meist in der Landwirtschaft. "Wir mögen die sauberen, hygienischen Kinder", schrieb dieser Tage Ali Can, ein Kolumnist der liberalen Zeitung Radikal nach einem fatalen Unfall in einem Sägewerk - "nicht die, die eingeklemmt unter einem Holzstoß liegen, und die im Gefängnis." (Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD; 7.5.2014)