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Der deutsche Arzt und Schriftsteller Gottfried Benn an einem Mikroskop

Foto: APA/dpa/dpaweb
Frankfurt/M. - Mit dem Abdruck eines Literaturfundstücks wartete die gestrige Ausgabe der F.A.Z. im Feuilleton auf. Der frühe Gottfried-Benn-Prosatext Unter der Großhirnrinde war erstmals am 15. Oktober 1911 in der "Frankfurter Zeitung", der Vorläuferin der F.A.Z. , veröffentlicht worden - und anschließend in Vergessenheit geraten. Wobei unklar bleibt, warum Benn diese Fingerübung unterdrückte.

Der Hautarzt, Lyriker und Zivilisationskritiker Benn (1886-1956) schlägt darin bereits alle diejenigen Grundtöne an, für die er späterhin berühmt wurde. In der Form eines Briefs beschwört Benn in vier Zeitungsspalten die Haltlosigkeit eines auf wissenschaftliche Erkenntnis versessenen Bewusstseins - eine von Ekel und Nietzsche-Tönen gespeiste Abrechnung mit dem Projekt Aufklärung.
Ein beispiellos suggestiver Text, der auf spätere Lieblingsthemen Benns vorgreift (etwa in dessen Novellenzyklus Gehirne) und die Nichtigkeit des vernunftgeleiteten Menschen in ein gleißendes, brandungsüberrauschtes Meerlicht rückt.

Die ob ihrer Illusionslosigkeit berüchtigten Gedichte des Morgue -Bandes sollten 1912 folgen; der Text Unter der Großhirnrinde kann somit als ein Gründungsdokument des literarischen Expressionismus angesehen werden. "Ich bin etwas Mürbes, Verteiltes, Zusammenhangloses" - der menschliche Phänotyp rüstet zur Abrechnung mit der Kultur. Ein literaturhistorischer Sensationsfund. (poh/DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.8.2003)