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Annette Pehnt:
Insel 34
Roman. € 17,40/187 Seiten. München/Zürich, Piper 2003

Foto: Archiv
Die Schule ist wieder einmal an allem schuld: Ein Mädchen erfährt in der Geografiestunde von den 34 Basaltinseln, die vor der Küste liegen und keine Namen haben, sondern Nummern. Das Mädchen, das keiner leiden mag, weil es einfach alles gut kann, Latein und Mathematik, Geräteturnen und Musik, ist zunächst nur neugierig, wie auf alles andere auch. "Die Lehrer ermüdeten oft schneller als ich, sie hatten sich ja schon entschieden und mussten nicht alles gleichzeitig machen und dazu noch gemocht werden."

Sehr bald aber wächst sich das zarte Pflänzchen der Neugier zum handfesten Interesse aus, bis schließlich der Dschungel der Obsession das Stadium der noch zügelbaren Leidenschaft überwuchert. Der Vater, einer, "der sich schnell zum Glühen bringen konnte", sieht es gern, dass seine Tochter sich endlich für etwas erwärmt. Die Mutter ist besorgt, weil die guten Noten nun ausbleiben und ihr Kind dick wird. Aber als es den Abschluss schafft und ein Mann, ein richtiger "Lebemann", seinem Dasein den Anstrich von Normalität gibt, ist sie beruhigt. In ihrem redlichen Bemühen, lebenslustig zu sein, lässt die Tochter die erotische Praxis und das ewige Sekttrinken mit dem notorisch untreuen Zanka freilich nur über sich ergehen, um in aller Ruhe der Inselkunde frönen zu können. Weil sie in der Bibliothek die Bekanntschaft eines richtigen zerstreuten, aber beim Lesen höchst effizienten Professors macht, verlegt sie sich auf das Studium der Dialektologie.

Mit ihrem neuen Buch hat Annette Pehnt, die Fast-Bachmann-Preisträgerin des Vorjahrs, eine originelle, mit traumwandlerischer Sicherheit erzählte Version der klassischen Inselgeschichte vorgelegt: Jedes der zehn Kapitel beginnt mit einem Zitat, von der Odyssee bis zu Tschechows Bericht über die Verbannteninsel Sachalin. Nur Defoes Robinson Crusoe fehlt. (Auch Javier Marías hätte gut gepasst: Er berichtet in seinem Metaroman Schwarzer Rücken der Zeit von einer ganzen Reihe historischer Insel-Besessener, in die er sich als Erbe des Titels "König von Redonda" einfügt.)

Wie in ihrem Erstling Ich muss los erzählt Pehnt von einem Sonderling, diesmal einem weiblichen. Dass die Sehnsucht der Heldin nach der Insel 34, jener, die abseits von den anderen am weitesten vom Festland entfernt liegt, metaphorisch zu verstehen ist, bedarf keiner Erklärung. Wie jedes utopische Ziel bleibt auch dieses unerreichbar. "Die Leute versuchen mit einer anwachsenden Verzweiflung zu leben und zu etwas zu kommen, einem Ort oder einer Person. Sie wollen eine Insel, auf welcher die Welt endlich ein Ort umschrieben von sichtbaren Horizonten sein wird", sagt Robert Creeley in Die Insel.

Annette Pehnt verlässt sich aber nicht auf die etwas abgenützte Wirkung der Existenz-Parabel: Sie stattet ihre Geschichte zum einen mit prallem Realismus aus, zum anderen macht sie aus der wackeren Heldin eine komische Figur. Insel 34 ist eine bosheitsfunkelnde Parodie auf die Wissenschaft, auf die Mühen der Ethnologie, die verblühte Pracht der Orchideenfächer, die Vorstellung von Ursprünglichkeit überhaupt. Schon beim Eintritt in die Inselwelt auf Nummer 28 wird die totale Desillusionierung des Touristen wie des Völkerkundlers vorgeführt - zwischen Nigel Barley und Kafka. Hier ist es unwirtlich, ja trostlos, es gibt Satellitenantennen und Asphalt, keine Fischer, keine Robben, keine Delfine - und keine Kinder. Doch die Bewohner, einsilbig und misstrauisch, geben das nicht zu. "Hier muss es einmal ganz anders ausgesehen haben" - die Besucherin hält am romantischen Bild fest, blitzt aber mit ihren Kenntnissen der alten Inselsprache beim Einheimischen ab: "Der Wind der Zeit für dich, sagte ich. Tag, sagte er und rammte den Schraubenzieher zwischen die Drähte."

Nun ist die Erzählerin eine, die sich nicht entmutigen lässt, sie glaubt an Listen, "weil Listen den Magen beruhigen und die Zuversicht stärken". Gelegentlich ergötzt sie sich an der "wunderbaren Palatalisierung der auslautenden Konsonanten". Sie lebt sich auch auf der nächsten Insel, auf 32, ein, wo es ständig regnet und beherzte Männer in fröhlicher Vergeblichkeit urzeitliche Eichenbohlen aus dem Torf ausgraben. Ja, sogar auf der Deponieinsel 33, wo sie der Müllfrachter dann absetzt, bleibt sie trotz Gestanks länger als geplant und hilft dem einsamen Mistregenten, der an diesem Tief-und Endpunkt der Zivilisation den Anstrengungen der Ausgräber entgegenarbeitet: Hier soll Gras über die Sachen wachsen. Am Ende scheint das einstige Wunderkind zwar nicht die ersehnte Insel, aber immerhin die Armut im Geiste gefunden zu haben. (ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 23./24.8.2003)