In Ländern, die viele junge, gut gebildete Menschen wegen der Krise verlassen, fehlt diese Gruppe zur Mobilisierung von Protest, sagt Soziologe Dieter Rucht.

 

UniSTANDARD: Herr Rucht, in aktuellen politischen Entwicklungen - etwa in der Ukraine oder der Türkei - scheinen Studierende eine wichtige Protestgruppe darzustellen. Stimmt dieser Eindruck?

Rucht: Für einige Länder trifft das zu, aber nicht für alle. Es ist nicht immer so, dass Studierende an vorderster Front mitkämpfen. Ich erinnere zum Beispiel an die Wendeproteste 1989, bei denen Studierende so gut wie keine Rolle gespielt haben. Generell kann man aber sagen, dass Studierende oft die Speerspitze des Protests sind.

UniSTANDARD: Warum ist das so?

Rucht: Gerade in Ländern wie der Ukraine oder der Türkei gibt es ein großes Bildungsgefälle - Studierende sind besser informiert; sie sind eher prodemokratisch eingestellt. Für die meisten Länder gilt, dass Studierende risikofreudiger sind. Sie haben meistens noch keine Familien, sind weniger gebunden und neigen zu offensiveren Protestformen.

UniSTANDARD: Nicht immer finden studentische Proteste aber gesamtgesellschaftlichen Rückhalt. Wo liegen die Schwierigkeiten in studentischem Protest?

Rucht: Oft identifiziert sich die Bevölkerung nicht mit den Anliegen der Studierenden. "Die sind ohnehin privilegiert und meckern gern", heißt es dann. Wenn sich jedoch generelle politische Fragen zu brisanten Themen entwickeln und die Studierenden mit den Protesten beginnen, dann kann ihre Rolle bedeutsam werden. Aber was ihre Organisations- und Konfliktfähigkeit angeht, gibt es Einschränkungen: Das Studium ist im Unterschied zu einem festen Arbeitsplatz eine Durchlaufstation. Oft wird deshalb nur wenig Wissen und Erfahrung an die nächste Generation übermittelt, und die Leute fangen erneut bei null an.

UniSTANDARD: Wie wirkt sich die - auch unter Akademikern - hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa auf das Protestverhalten aus?

Rucht: Akademische und nichtakademische Arbeitslose agieren kaum als getrennte Gruppen. Bei Jugendlichen in Spanien und Griechenland führte die Krise auch dazu, ihr Glück im Ausland zu versuchen. Diese Menschen fehlen dann bei der Mobilisierung in ihren Heimatländern.

UniSTANDARD: Das Internet ist die offensichtlichste Veränderung für die Protestkultur. Was hat sich - speziell für die studentische Gruppe - in den vergangenen Jahren noch verändert?

Rucht: Das Internet ist kein herausragendes Mittel der Überzeugung von noch indifferenten oder unpolitischen Menschen. Es wird in meinen Augen überschätzt. Im Vergleich zur 68er-Revolte sind die heutigen Forderungen bescheiden: Sie beziehen sich überwiegend auf die universitäre Situation und greifen weniger gesamtpolitische Anliegen auf.

UniSTANDARD: Weil die Situation an den Unis prekärer ist?

Rucht: Ja, natürlich. Die Situation in meinem Studium Ende der Sechzigerjahre war luxuriös. Nicht bezogen auf die finanziellen Mittel, sondern auf die Freiheiten, die man hatte. Ich musste mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, welche Qualifikationen, etwa Fremdsprachen, Praktika und Auslandsaufenthalte, ich zusätzlich brauche, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. (Lara Hagen, DER STANDARD, 8.5.2014)