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Ein Angehöriger der Guardia Civil geht in der spanischen Exklave Melilla an Afrikanern vorbei, die nach Europa wollen.

Foto: AP/Fernando Garcia

Zu den Ritualen der intellektuellen Hygiene gehört es, dass man von Zeit zu Zeit die Bücherregale ausmistet. Da ist ein Buch verdächtig, vom Titel, vom Autor oder vom Thema her, ein Blick aufs Inhaltsverzeichnis, eine halbe Probeseite - und schwupps landet es in der wunderbaren Einrichtung der "Freien Bücherschränke". Umberto Eco, Derrick oder Die Leidenschaft für das Mittelmaß, Hanser 2000 - ziemlich verdächtig.

Streichholzbriefe hat Eco seine Kommentare zum Zeitgeschehen in L'Espresso genannt - braucht man das noch? Doch beim Aufblättern bleibt man beim ersten Artikel hängen, er heißt Migrationen, und weil in Melilla, Ceuta, Malta oder Lampedusa gerade wieder etwas geschehen ist, beißt man sich fest. Und man ist sprachlos über die knappe Lakonie, mit der Eco 1990 - 1 9 9 0 - den ganzen Migrationsdiskurs verworfen und einfach diagnostiziert hat, dass wir in einem Zeitalter der Völkerwanderung leben. "Einwanderung" - ein "hübscher Euphemismus" - liege vor, "wenn einige hunderttausend Bürger eines übervölkerten Landes sich aufmachen, in einem anderen Land zu leben - zum Beispiel die Italiener in Australien".

Das könne man regeln, mit Zuwanderungsgesetzen, mit Ausweisungen gegen jene, die gegen Gesetze verstoßen - eine Völkerwanderung hingegen sei ein Naturereignis, "ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Planeten, der die Kulturen seit jeher im Gefolge großer Migrationsströme entstehen und vergehen sah". Die römischen Kaiser hätten Zäune und Wälle errichtet, ihre Legionen - das sind im Zeitalter der Soft Powers Entwicklungshelfer - in die Auswanderungsländer gesandt, Verträge geschlossen, versucht, die illegalen Niederlassungen zu disziplinieren, das Bürgerrecht auf alle Untertanen des Reichs ausgedehnt, das sei alles erfolglos geblieben: Am Ende bildeten sich die römisch-barbarischen Reiche, und die seien die Keimzelle unserer heutigen europäischen Länder.

Und in die Territorien des Nordens, die von den Nachfolgern der Barbaren bewohnt werden, ziehe eben der versteppende und verhungernde Süden. Und zwar nicht mit jener Gewalt des Einfalls der Germanen ins Römische Reich und auch nicht mit der Heftigkeit der islamischen Expansion zu Beginn des Islams. Nein, "diskrete, unterwürfige Grüppchen" kämen und würden in einigen Jahrzehnten eine "neue ethnische Mischung in den Zielländern" bewirken - "so wie einst in Sizilien eine nicht sehr große Anzahl von Normannen einen blonden und blauäugigen Menschenschlag hinterlassen hat" . Und dann schließt er: "Die großen Wanderungen hören nicht auf. Was sich da vor unseren Augen abzeichnet, ist einfach eine neue Phase der afro-europäischen Kultur."

Man liest's, ist beeindruckt - und gleichzeitig ringt man nach Luft und beginnt nachzufragen. Historisch gesehen hat Eco recht - das römische Grenzsicherungssystem, der Limes, mit seinen Mauern und Kastellen wurde einfach überrannt. Man könnte seine knappe Argumentation ja noch ergänzen, etwa um die zahlreichen religiösen Konflikte zwischen den importierten Religionen und den römischen Göttern, oder um die ethnische Zusammensetzung der römischen Plebs, die man mit panem und circenses sozial sedierte. Aber ist eine historische Analogie schon ein Argument?

Unheilige Trias

Andererseits - der Mann hat vor 25 Jahren einen Trend erkannt, den zwar manche heute noch leugnen, der sich aber verstärkt hat. Und er hat einen Weg gefunden, diese unheilige Trias im Diskurs über massenhafte Zuwanderung zu umgehen: die der Apostel der humanitären Verpflichtung, die der Kaufleute mit ihrer Notwendigkeit von Zuwanderung zur Stabilisierung maroder Sozialsysteme und die der Blutfetischisten, die über Umvolkung klagen.

Spricht es nicht für den Text, dass er trotz des prominenten Erscheinungsortes vergessen wurde? Ist es seine Kraft, Ratlosigkeit herzustellen - oder ist er einfach zynisch gegenüber dem Leid der "diskreten, unterwürfigen Grüppchen"? Kann man Handlungsanweisungen aus dem Text ableiten? Nein, sicher nicht. Was bleibt? Vielleicht die Erinnerung an den William von Baskerville im Namen der Rose, der zwar seinen Fall intellektuell gelöst hat, die damit verbundenen Katastrophen aber nicht verhindert hat. (Alfred Pfabigan, DER STANDARD, 8.5.2014)