Firn - das ist jener Aggregatszustand des Schnees, der durch den immer wiederkehrenden Wechsel von nächtlichem Durchfrieren und dem Auftauen tagsüber entsteht. Bis dann irgendwann einmal die Luft aus der Schneedecke völlig draußen ist. Je später im Jahr, desto kompakter wird der Schnee, und es lässt sich mit Skiern wie auf einer Seifenauflage genussvoll talwärts schmieren.
Man muss warten können
Aber wie das eben so ist mit den wirklich wichtigen Momenten im Leben, muss man auch auf den Sommerfirn warten können. Im Lungauer Riedingtal, das sich am Südrand der Radstädter Tauern von Zederhaus parallel zum hinteren Murtal westwärts zieht, konkret bis zum Muttertag. Traditionellerweise sperrt die Mautstraße in den Naturpark Riedingtal am zweiten Sonntag im Mai auf. Das hat weniger mit Mutterliebe und Familienglück zu tun, sondern resultiert aus der Erfahrung, dass bis Anfang Mai die Straße meist noch mit Wechten und Lawinenstrichen verlegt ist. Im hinteren Riedingtal kann das übrigens auch noch nach der Straßenöffnung der Fall sein.
Wenn aber die Straße frei ist, dann hat sich in den Rinnen und Mulden der Bergflanken im hinteren Riedingtal längst jene Schneekonsistenz gebildet, die Tourengeher in Stadien der höchsten Verzückungen entrücken.
Die Sommerfirnklassiker
Heuer dürfte die Saison hier im nordwestlichsten Eck des Lungau bis in den Juni hinein dauern, der meiste Schnee ist diesen Winter ja südlich des Alpenhauptkammes gefallen. Neben Stierkarkopf, Wildkarhöhe, Windischkogel, Glingspitze oder Reicheschkogel ist die Jägerspitze der Sommerfirnklassiker schlechthin. Mit 850 Höhenmeter Anstieg und überschaubaren technischen Schwierigkeiten ist der 2508 Meter hohe Berg tatsächlich familientauglich und einen Muttertagsausflug absolut wert.
Schneesicher sind die vom Talboden bergwärts führenden Rinnen allemal, der gesamte Anstieg ist nach Norden ausgerichtet, die Sonne kann im März und April noch nicht mit voller Wucht die Schneedecke wegbrutzeln.
Dem Frühling entfliehen
Und so geht es dann frühmorgens zwischen frisch austreibendem Erlengebüsch, mit bunten Wiesenkrokussen bestückten Wiesen entlang und begleitet von frühlingstrunkenem Vogelgezwitscher, mit Skiern, Fellen und Harscheisen bergwärts. Mit jedem Schritt entflieht man dem Frühling, bis sich auf etwa 2000 Meter Seehöhe die Schneedecke endgültig völlig geschlossen hat. Spätestens um elf Uhr vormittags wird dann die Bindung zugedrückt, und es geht entlang der Schneezungen zurück ins Frühlingsgrün. (Thomas Neuhold, DER STANDARD, Album, 10.5.2013)