Bild nicht mehr verfügbar.

September 2013: Wladimir Putin (li.) und Aljaksandr Lukaschenka beobachten ein gemeinsames Militärmanöver ihrer beiden Länder.

Reuters/Novosti

Bild nicht mehr verfügbar.

Artur Klinau: "Um die Leute zum Nachdenken und zum Handeln zu bringen, muss man subtile Dinge machen. So entstehen immer mehr Nischen und Freiräume."

Corbis / Michal Fludra

Artur Klinaus Augen haben etwas Neckisches, wie sie einen anschauen. Und tatsächlich ist der weißrussische Künstler und Schriftsteller so etwas wie ein Narr der zeitgenössischen Kunstszene seines Landes. Er nimmt die sowjetischen Mythen von Weißrussland und lädt sie mit Ideen und Ironie auf. Und Klinau hat auch sehr viele prägnante Ansichten über die politische Kultur in seiner Heimat, über die Partisanen, aber auch über die derzeitigen Ereignisse in der Ukraine, auf die viele Weißrussen mit großen Sorgen blicken.

STANDARD: Bald beginnt die Eishockey-Weltmeisterschaft in Minsk. Werden Touristen und Fans von der Diktatur in Ihrem Land etwas mitbekommen, oder wird das Regime des Präsidenten Lukaschenka alles dafür tun, um den Eindruck eines normalen Landes zu vermitteln?

Klinau: Die Freunde des Extremtourismus werden wahrscheinlich enttäuscht sein, aber eine "furchterregende" Diktatur werden sie ganz sicher nicht zu Gesicht bekommen. Und das hat nichts mit der Weltmeisterschaft zu tun. Die meisten Ausländer, die nach Belarus kommen, sind erstaunt. Statt des schwarz-weißen Bildes, das sie erwartet haben, bekommen sie ein europäisches Land zu sehen, mit gepflegten Städten, nicht so schlechten Straßen und mit einem gastfreundlichen Volk.

STANDARD: Bei einer kurzen Reise nach Weißrussland ist es natürlich schwierig, hinter diese Fassade zu blicken.

Klinau: Natürlich ist das alles nur eine Fassade, hinter der sich viele Probleme verbergen. Und - da haben Sie ganz recht - ein Tourist wird kaum verstehen, wie das Regime funktioniert.

STANDARD: Wird es denn Proteste geben?

Klinau: Nein, Proteste wird es nicht geben. Vielleicht wird es zu Proteste in Europa kommen, weil eben diese Weltmeisterschaft bei uns stattfindet. Aber ich glaube, dass es für uns nur gut ist, wenn so viele Gäste aus Europa zu uns kommen. Einen Boykott halte ich für nicht sinnvoll. Es wird das Land ein wenig öffnen, und das ist gut für seine demokratische Perspektive.

STANDARD: Wie schauen die Weißrussen auf das, was in der Ukraine passiert?

Klinau: Die meisten Weißrussen sind sehr solidarisch mit dem Kampf der Ukrainer für Unabhängigkeit und Freiheit. Und wir alle verstehen sehr gut, dass das, was dort passiert, auch ein Bedrohungsszenarium für uns ist. Wenn Wladimir Putin Belarus annektieren will, dann wird er dies aber nicht in Teilen tun, sondern er wird uns mit einem Bissen verschlingen. Viel hängt jetzt von Europa ab. Und ich glaube, dass man mit unseren Machthabern wieder ins Gespräch kommen muss, um Weißrussland aus dem Einflussbereich Russlands zu ziehen. Ich will Lukaschenka gar nicht schönreden. Aber man muss das für die Zukunft von Belarus machen, um unsere Unabhängigkeit zu bewahren.

STANDARD: Ihre Heimat wird ständig als "letzte Diktatur Europas" bezeichnet. Nervt Sie das?

Klinau: Der Westen und vor allem die Medien denken gern in Schablonen. Europa will nur hören, was es hören will. Ja, wir haben eine Diktatur. Aber da ist auch nicht alles schwarz-weiß. Sie funktioniert viel komplexer, als sich das manche vorstellen können. Aber wir sind ja in gewisser Weise auch selbst schuld: Schließlich haben wir die politische Freiheit noch nicht erreichen können.

STANDARD: Die Republik Belarus ist trotz Diktatur viel freier als - sagen wir - die Sowjetunion. Ist die neue Generation der Weißrussen freier als die Generation der Sowjetmenschen?

Klinau: Vielleicht. Aber Weißrussen sind in ihrem Inneren eigentlich vergleichsweise freie Menschen. In Russland gab es nie eine Schicht oder Klasse von freien Menschen. Überspitzt kann man sagen: In jedem Russen sitzt die Seele eines Sklaven und die eines Herrn, was mit der Geschichte zu tun hat. Ich meine keine Sklaverei, wie es sie im alten Rom gab, sondern die einer fatalen Abhängigkeit. Der Bauer gehörte einem Fürsten. Der Fürst wiederum war dem Zaren unterwürfig, ohne über eigene Freiheiten zu verfügen. Im Westen hatten die Adligen dagegen viel größere Freiheiten.

STANDARD: War das in Belarus anders?

Klinau: Unser Territorium, das bis zum Jahr 1991 nie ein eigenständiger Staat war, gehörte ja zum Großfürstentum Litauen, dann zum polnisch-litauischen Doppelstaat, bevor es in den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts vom Zarenreich okkupiert wurde. Unsere Adligen und Bauern und Städter, die unter dem Magdeburger Stadtrecht lebten, waren viel freier. Das merkt man den Weißrussen heute noch an.

STANDARD: Sie haben aus dieser Geschichte ein Konzept entwickelt, das Sie als die Partisanenkultur bezeichnen.

Klinau: Damit meine ich nicht den sowjetischen Mythos des Partisanen, der im Zweiten Weltkrieg gegen die Faschisten kämpfte, sondern eine ganze Kultur der subtilen Überlebensstrategien. Weißrussen können in den schwierigsten Situationen überleben. Es ist überlebenswichtig geworden für die Menschen in diesem Land, eine Partisanentaktik anzuwenden, um überleben zu können. Und diese Strategie des Partisanen eignet sich ja auch tatsächlich, um in Kriegszeiten oder in der Okkupation überleben zu können. Sie ist aber ungeeignet, um ein Leben nach dem Krieg aufzubauen.

STANDARD: Die Partisanenkultur ist auch ein Grund dafür, dass Lukaschenka seit fast 20 Jahren regiert?

Klinau: Der negative Effekt dieser sehr individualistischen Freiheit ist es, dass die Weißrussen das große politische Bild nicht für ihre Lebensumstände verantwortlich machen. Sie beschäftigen sich eher mit ihrer Familie oder mit ihrem nahen Umfeld, wo sie sich ausleben und wo sie die Partisanenkultur einsetzen können, um sich ein Überleben zu sichern. Weißrussen sind tatsächlich sehr individualistisch, verschlossen, und wenn es um eine kollektive Aktion wie den politischen Protest oder eine Opposition geht, ist ihre Fähigkeit sehr schwach ausgeprägt. Die älteren Generationen, die sich noch gut an den Krieg und an die brutalen Repressionen unter Stalin erinnern, nehmen Lukaschenka ohnehin nur als kleineres Übel war. Da wirkt das Vorgehen Lukaschenkas gegen ein paar kritische Journalisten, Oppositionelle und Künstler doch vergleichsweise harmlos.

STANDARD: Sie sprechen vor allem weißrussisch, das in Ihrem Land heute meist die sprechen, die sich vom Regime Lukaschenka abgrenzen wollen. Spricht der Partisane weißrussisch?

Klinau: Nicht immer. Aber viele Kunstpartisanen sprechen es, und zwar deshalb, weil sie einem ganz anderen Kulturmodell anhängen als dem neosowjetischen, das der Staat verbreitet. Meine Familie war russischsprachig wie viele in Minsk, das in der Sowjetunion stark russifiziert war. Bis in die Achtziger hat kaum jemand weißrussisch in der Stadt gesprochen. Die Leute auf den Dörfern natürlich, die aber einen Mischmasch aus Weißrussisch und Russisch sprachen, und ein spezieller Kreis von Künstlern oder Schriftstellern. Ich habe die Sprache in der Schule gelernt. Aber wirklich angefangen zu sprechen habe ich sie erst in den Achtzigern. Da gab es viele junge Künstler, bei denen das Weißrussische ein Zeichen einer neuen Identität wurde, die eben nicht sowjetisch sein sollte. Weißrussisch zu sprechen, das war für uns ein Zeichen von Unabhängigkeit.

STANDARD: Unterscheidet sich die Sprache denn so sehr vom Russischen?

Klinau: Als ostslawische Sprache hat es eine Grammatik, die der Grammatik des Russischen sehr ähnlich ist. Aber die Lexik ist sehr anders. Sie ist dem Polnischen, Ukrainischen oder Slowakischen viel näher. Zudem gibt es eine Menge jiddischer Wörter im Weißrussischen, da die Städte bis zum Zweiten Weltkrieg sehr jüdisch geprägt waren.

STANDARD: Ist Lukaschenka ein Symbol für die Unfähigkeit der Weißrussen, sich politisch zu organisieren?

Klinau: Ganz bestimmt ist er das. Und für die Weißrussen ist ihre Unfähigkeit, eine politische Freiheit für sich zu finden, ein großes Problem. Das ist ein langer Prozess. Da, wo die Ukrainer heute sind, sind wir Weißrussen noch lange nicht. Aber Lukaschenka ist sogar der Archetyp eines Partisanen, da er auch für sich immer neue Überlebensstrategien entwickelt und nur Feinde sieht. Außenpolitisch arbeitet er gegen den Druck von Russland, gegen die Europäische Union oder auch im Land selbst gegen aufstrebende Gruppierungen. Das Regime Lukaschenka versteht die Mentalität der Weißrussen sehr gut. Solange man sich nicht in die große Po- litik oder in das große Geschäft einmischt, kann man leben, wie man will. Das Regime überlässt den Weißrussen kleine Freiräume, in denen man Kartoffeln anbauen, kleinen Geschäften nachgehen, kritische Meinungen verbreiten oder eben Kunst machen kann.

STANDARD: Wer sich zu sehr mit Politik beschäftigt oder zu weit aus dem Fenster lehnt, der kriegt allerdings Probleme.

Klinau: Oh ja. Er bekommt Besuch von der Steuerfahndung, vom KGB. Eine Zeitung, die ihre Auflage steigern will, wird verboten. Ein Geschäft, das einem mit den besseren Kontakten zu gefährlich wird, wird geschlossen. Ein Verlag, der sich für eine andere Literatur einsetzt, ebenso. Im schlimmsten Fall wird man verhaftet und weggesperrt. Dieses System hat sich für das Regime bewährt. Und es ist in den Köpfen der Weißrussen verankert.

STANDARD: Aber diese postsowjetische Gesellschaft verändert sich ja auch. Schließlich ist Belarus nicht die Sowjetunion. Neue Kultureinflüsse kommen über das Internet, über Reisende oder die Diaspora ins Land.

Klinau: Genau. Das Regime versucht die Gesellschaft mit einer Kitschkultur bei Laune zu halten, aber uns dürstet es nach neuen Ideen. Davon profitieren Künstler wie ich. Allerdings mag uns das Regime überhaupt nicht, da wir die Leute zum Nachdenken und zum Handeln bringen. Und dazu muss man nicht banale Dinge gegen das Regime tun. Es ist viel interessanter, das subtil zu machen. So entstehen immer mehr Aktionen, Nischen und Freiräume innerhalb des Regimes, für das es nicht ganz leicht sein wird, all das zu kontrollieren. Denn die Gesellschaft verändert sich.

STANDARD: Was macht Sie so optimistisch?

Klinau: Als Künstler muss ich Optimist sein. Vor allem in so einem Land. Mit meiner Arbeit versuche ich mir ja ständig zu beweisen, dass man anders leben kann als in der Realität, die mich umgibt. (Ingo Petz, Album, DER STANDARD, 10./11.5.2014)