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Studentenproteste in Sofia 2013: Die politischen Umbrüche ließen die Gesellschaften im Osten nicht einfach zerfallen - sie haben sie gleichsam atomisiert.

Foto: AP/Valentina Petrova

Im Frühjahr 2014 bin ich per Anhalter unterwegs von Bukarest nach Sofia. So lerne ich Yussein Bülen kennen. Mit einem 40-Tonner fährt Yussein Metallteile aus einer Fabrik in den Karpaten in ein Werk bei Istanbul. Bis zur Grenze an der Donau dauert es zwei Stunden. Mehr braucht er nicht, mir seine Geschichte zu erzählen.

Yussein stammt aus einem Bergdorf in den bulgarischen Rhodopen. Er ist Pomake; seine Vorfahren haben während der osmanischen Fremdherrschaft den muslimischen Glauben und türkische Namen angenommen. "Warum leben Sie nun in der Türkei?" Yussein schweigt. Dann sagt er: "Eines Nachts zerrten mich Soldaten aus dem Bett. Sie schleppten meinen Vater und mich auf die Polizeiwache. Dort legten sie uns Listen mit bulgarischen Namen vor. Sucht euch einen aus, brüllten sie." Noch in derselben Nacht flohen Vater und Sohn in Richtung Türkei. Das war im Sommer 1989, bevor das kommunistische System auch in Bulgarien zusammenbrach. Yussein war damals 14. "Das ist immer da drin. Das werd ich nicht los", sagt er und schlägt die Faust gegen seine Stirn. "Im Traum stehen die Soldaten noch immer vor meinem Bett. Und du?", fragt er.

"Ich bin auf dem Weg zu einer Schriftstellerin." - "Kenne ich sie?", fragt Yussein. "Liest du?", frage ich. "Willst du mich beleidigen?", sagt Yussein und redet nicht mehr mit mir. Nach zwei Stunden passieren wir die Donaubrücke hinüber zur bulgarischen Stadt Russe, dem früheren Rustschuk. Wir halten in einer ruhigen Straße unweit vom Zentrum. "Weißt du, was das dort ist?" Er zeigt auf ein verfallenes Haus. Am Gartentor hängt eine Kette mit einem Vorhängeschloss. "Das ist das Geburtshaus von Elias Canetti." Yussein klettert in die Schlafkoje im Dach, holt ein Buch hervor und liest mir etwas vor - auf Bulgarisch.

"Alles, was ich später erlebte, war in Rustschuk schon einmal geschehen. Die übrige Welt hieß dort Europa, und wenn jemand die Donau hinauf nach Wien fuhr, sagte man, er fährt nach Europa, Europa begann dort, wo das türkische Reich einmal geendet hatte."

Yussein klappt das Buch zu. "Glaubst du, ich wollte Kraftfahrer werden? Die Bulgaren wollten uns nicht, für die Türken waren wir Fremde. Heute ist meine Heimat hier." Er zeigt in die Fahrerkabine und auf das Buch. "Liest du?", äfft er mich nach und schüttelt den Kopf - als fasse er nicht, dass jemand ihn so etwas fragt. Der Morgen dämmert, als er mich am Stadtrand von Sofia absetzt. Ich blicke ihm nach, dem heimatlosen Fernfahrer, der mit seiner Geschichte und Elias Canetti Metallteile durch Europa fährt.

Sie vergaßen ihre Kinder

Mit einer rumpelnden Straßenbahn mache ich mich auf den Weg. Würde ich weiterfahren, mit einer Seilbahn hinauf zu den Gipfeln des Witoscha-Gebirges, läge Sofia unter mir, in einem schmutzigen Nebel. Sofia, Jahrtausende alt, ein Körper voller Schrunden und Narben. Sofia, die Stadt der Schriftstellerin Teodora Dimova. Am Nachmittag steige ich die Treppen zu Teodoras Wohnung hinauf. Sie begleitet mich ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch tanzt ein Dschinn aus Dampf über einer Tasse Tee. Mir ist, als beträte ich ein Stillleben. Ich höre nichts. Nur das leise Knarren der Zeit im Parkett unter meinen Schuhen. Vor dem Fenster die Goldkuppeln der Alexander- Newski-Kathedrale, die Universität. "Ich wohne im schönsten Stadtteil", sagt die kleine schmale Frau, und plötzlich schwebt der nackte Gipfel aus dem Witoscha über der Kulisse, schneebedeckt, als hätte Chagall ihn dahin gemalt.

2007 ist im Wieser-Verlag ein besonderer Roman von Teodora Dimova auf Deutsch erschienen: Mütter. Ich erinnere mich an meine Erschütterung, als ich das Buch nach 250 Seiten zuschlug: Zum ersten Mal hat eine osteuropäische Autorin die postkommunistischen Zustände konsequent aus dem Blickwinkel von Kindern beschrieben. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich schon ein Jahrzehnt mit Kindern aus bulgarischen Kinderheimen. Und genauso lange versuchte ich herauszubekommen, wieso es solche "Aufbewahrungsstätten" voller traumatisierter Kinder in Bulgarien überhaupt gibt. Diese Kinder sind kein Überbleibsel eines Regimes à la Ceause?cu. Die meisten kamen erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in die Heime. Dimova lieferte mit Mütter plötzlich Erklärungen. Ich begriff bei der Lektüre: Die politischen Umbrüche ließen die Gesellschaften im Osten nicht einfach zerfallen - sie haben sie gleichsam atomisiert. "Wie ist dieses Buch entstanden?", frage ich Teodora. "Es gab Tage, da betrug die Inflation 1000 Prozent", erzählt sie. "Kaum ein Bulgare hatte mehr Geld. Ich konnte meinen Kindern zeitweilig nicht mal was zu essen kaufen. Die meisten Eltern waren nur noch mit sich beschäftigt. Sie vergaßen ihre Kinder."

"Warum, warum, warum, Gott, hast du den anderen Kindern Mütter gegeben und mir nur dieses Wrack, diesen Abschaum ...", klagt Andreja, eine Hauptfigur des Romans. An seinem Ende bringen sieben Jugendliche ihre Lehrerin Javora um, den einzigen Menschen, der ihnen Halt gab. "Das war eine Zeit, in der viele Schüler Mafiosi als Berufswunsch angaben. Ich habe versucht, meine Kinder nach christlichen Werten zu erziehen: Mitleid, Barmherzigkeit", sagt Teodora Dimova. "Nach Werten, wie sie die Lehrerin Javora im Roman verkörpert. Ich fragte mich damals: Wie gehen wir um mit jemandem, der uns diese Werte vorlebt - in einer Gesellschaft, in der sich Moral auflöst wie der Dampf über meiner Teetasse hier."

Dimova erzählt ihre Geschichten im Roman mit leisem, poetischem Tonfall. Alexander Sitzmann hat ihn einfühlsam übersetzt. Doch der Inhalt des Buchs ist schwer erträglich. Der Vater eines Mädchens namens Dana versäuft das Geld, das ihre Mutter als Gastarbeiterin auf Zypern verdient. Kalina muss ihre gelähmte Großmutter pflegen, während Mama vor der Glotze sitzt. Die Zwillinge Dejan und Bojana werden auseinandergerissen. Als sich ihre Eltern scheiden lassen, nimmt jeder ein Kind mit - Gütertrennung auf Bulgarisch. In Die Mütter zerfallen alle Familien. Die Kinder, die aus ihnen hervorgingen, sind heute 25. Die Generation der Zukunft in Bulgarien.

Dimovas Roman ist eine Metapher für das, was im postkommunistischen Osteuropa vor sich ging. Kein Autor hatte zuvor diese Fragen gestellt: Welche Verantwortung tragen Eltern für die Fortentwicklung der europäischen Kultur? Wer sind jene Menschen, die in Europas Parlamente streben? Die in Brüssel Entscheidungen treffen über unser aller Zukunft? Was können wir von ihnen erwarten? Wer war ihnen Vorbild? Vor einigen Tagen erst hätte die Jugend in Bulgarien aufbegehrt. Die Studenten hätten gestreikt, die Innenstadt lahmgelegt. Sie wollten, dass die Regierung korrupte Politiker zur Verantwortung zieht. "Man hat die jungen Leute einfach ins Leere laufen lassen - nichts hat sich geändert. Ich mache mir Sorgen um mein Land", sagt Teodora Dimova: "Ich mache mir Sorgen um Europa." (Mirko Schwanitz, Album, DER STANDARD, 10./11.5.2014)