Hans Hollein und Wolf Prix.

Foto: Aleksandra Pawloff

Ein Satz, der jetzt noch  den Spießern in unserer Zwergpudelstadt den kalten Schauer über den Rücken jagt: "Alles ist Architektur." Vor cirka drei Wochen  hat mich John Sailer angerufen und gesagt: "Ich mache für Hans Hollein zu seinem 80. Geburtstag eine kleine Ausstellung. Kannst Du etwas dazu sagen?" Fein, hab ich mir gedacht, ist ja einfach.

Ich dachte sofort daran, wie ich ihn als Student an der TU Wien gesehen habe, wie ich ihn als junger Architekt wahrgenommen habe, und wie ich später als zwei Generationen Jüngerer – zwei Architekturgenerationen Jüngerer! – mit ihm an einem Projekt zusammengearbeitet habe. Das war ein Projekt für die Weltausstellung in Wien, ein Wettbewerb, nicht gewonnen,  aber wir haben das Projekt daraufhin gemeinsam in der Galerie Aedes in Berlin vorgestellt. Thema: Qualitätssolidarität.

Und ich dachte daran, wie ich ihn als Professorenkollegen an der Angewandten, an die er mich später geholt hat, erlebt habe. Gerade heute ist das nicht mehr so leicht. Das hat nicht nur mit Respekt zu tun, was nebenbei bemerkt eine Eigenschaft ist, die man gerade in Wien nicht pflegt, denn Mittelmaß kennt keinen Respekt, sondern auch mit den vielen Nachrufen, die in den letzten Tagen im In- und Ausland erschienen sind.

Ich werde Ihnen jetzt nicht erzählen, wie wir als Studenten an der TU einem jungen, schlaksigen Mann im gestreiften Hemd und orangen Socken, der faszinierend über seine Stadtmodelle gesprochen hat, begeistert zugehört haben. Oder wie wir ihn damals – wir schon Himmelblau – als Architekten erlebt haben, der niemals mit einem Ergebnis zufrieden war und Tag für Tag das Projekt geändert, verbessert hat. Und ich werde Ihnen auch nicht erzählen, wie er als Institutsvorstand – trotz eines sichtbar leeren Terminkalenders – Termin für Termin Vorschläge für eine nächste Sitzung abgelehnt hat.

Hans Hollein spielte das Spiel der Macht. Und er sagte, wenn man Macht hat, dann muss man sie auch ausüben. Diese Ausüben der Macht war ihm nicht wichtig für sich persönlich. Nein. Es war ihm wichtig, die Macht dort einzusetzen, wo er die Möglichkeit sah, die Grenzen der Architektur zu erweitern.

Ich weiß nicht, wo er sich das abgeschaut hat. Vielleicht von Clemens Holzmeister. Aber sicher bin ich mir, dass Hans Hollein einer der wenigen Architekten war, und zwar sowohl hierzulande als auch international, die strategisch denken konnte. Ich bin zwar kein Kunsthistoriker. Aber eines ist für mich klar: Hans Hollein war ein Erfinder. Und damit einer der einflussreichsten und auch wichtigsten Architekten der Welt.

Die Nachrufe in der österreichischen Presse wiederholen zum Teil dümmlich all das, was er zu Lebzeiten sicher gerne gehört hätte. Und wie üblich wurde es ihm nie gesagt, denn sonst hätte er in dieser Stadt des Mittelmaßes mehr gebaut, als er tatsächlich gebaut hat. Denn sonst hätte er mit Sicherheit den Kiesler-Preis bekommen, einen Preis, den eigentlich er erfunden hat und aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann, selbst nie bekommen hat.

Alle schreiben in Österreich, dass er der wichtigste und einflussreichste Architekt war, aber niemand in Österreich schreibt, warum. Da muss man schon die internationalen Zeitungen lesen, wie zum Beispiel die NZZ. Wie gesagt: Ich bin kein Kunsthistoriker, aber Hans Hollein war der wichtigste und einflussreichste Architekt Österreichs. Warum war er wichtig? Weil er ein Erfinder war. Und warum war er einflussreich? Weil er wichtig war.

Als Erfinder hat er Architekturströmungen ausgelöst oder zumindest mitgeprägt – und zwar sowohl als Theoretiker als auch als bauender Architekt. Er war Erfinderpionier, und kein Epigone oder Mitläufer, zum Unterschied von vielen gehypten Shootingstars der Szene. Ganz nach dem Motto: heute bejubelt, morgen vergessen.

Hollein war Mitbegründer der Richtung der Postmoderne, und ich finde, der Bilbao-Effekt sollte eigentlich Mönchengladbach-Effekt heißen, weil er mit seinem Kunstmuseum Abteiberg in Mönchengladbach eine neue Typologie des Museums entworfen hatte. Und obwohl diese Typologie, wie übrigens auch das Haas-Haus am Wiener Stephansplatz, fürchterlich angefeindet wurde, hat er mit seinen tollkühnen Raumcollagen bewiesen, dass Architektur selbst Kunst sein kann und dass der Begriff Funktion radikal erweitert werden muss.

Sich selbst hat Hollein zeit seines Lebens als Funktionalisten bezeichnet. Nur dass er diesen Begriff erweitert gefasst sehen wollte! Ich denke da zum Beispiel an den Raumanzug, der mit seiner Technik der Kontrolle der Körperfunktionen die Schutzfunktion der Architektur obsolet macht und dadurch die Architektur für neue, für ganz neue Räume befreit, die in der Lage sind, auf unsere Emotionen und Obsessionen zu antworten – das war für uns junge Architekten damals das Zeichen zum radikalen Aufbruch in eine neue Welt. Wenn das nicht Wirkung ist!

Der New Yorker Architekt Peter Eisenman behauptet, dass die Zukunft eines Architekten und seiner Gedanken am Zeichentisch und an den Projekten der Studenten abzulesen ist. Wenn man die Montage von Hans Holleins Flugzeugträger neben unserem Modell des Musée des Confluences in Lyon zum Vergleich hinstellt, dann ist selbst da noch der Einfluss von Hans Hollein zu spüren.

Die Faszination, die von seinen Modellen, seinen  Zeichnungen und seinen Texten ausging, kann man in vielen Projekten der damals jungen Architekten sowie jener Architekten, die damals seine Studenten waren, noch immer nachlesen. Das ist Einfluss!

Obwohl Hans Hollein immer global gedacht hat, ist er ein zu tiefst österreichischer und vor allem Wiener Architekt. Denn diese unsere Stadt von Freud – und wenn man so will: die Stadt der Psychoanalyse – ist beides. Die Stadt und die Psychoanalyse sind in Holleins gezeichneten und gebauten Raumsequenzen zu lesen. Allerdings muss man dazu lesen können.

Lars Lerup, Professor an der Rice School of Architecture in Texas, teilt das Denken und die Werke der Architekten in drei Kategorien ein und vergleicht sie mit einem Gebäude: Es gibt Architekten, die sich vornehmlich mit dem Keller beschäftigen. Hier sei aus österreichischer Sicht Raimund Abraham genannt. Es gibt Architekten, die beschäftigen sich mit dem Mittelbau. Dazu fällt mir Rem Koolhaas ein. Und es gibt Architekten, die beschäftigen sich mit dem Dach als Utopie. Dazu zählen sicherlich Zaha Hadud – und vielleicht auch wir, Coop HImmelb(l)au. Hans Hollein jedoch beanspruchte alle drei Kategorien für sich.

Ich möchte Hans Hollein zu den internationalen Widerstandskämpfern der Architektur zählen, die ihre Ideale weder verraten noch widerrufen haben, und die unentwegt die Grenzen des Begreifens überschreiten, um zu beweisen, dass Architektur mehr ist als nur die Erfüllung eines ökonomisch funktionellen Zwanges.

Wagner, Loos, Hollein: "Alle sind Architekten. Alles ist Architektur." (Wolf Prix, derStandard.at, 10.5.2014)