Seit Freitag ist alles anders. Selbst EU-Kundige haben bis zu diesem Tag geglaubt, im Herbst werde jener Kandidat zum Kommissionspräsidenten gewählt, dessen Fraktion am 25. Mai die Parlamentswahlen gewinnt. Also Martin Schulz von den Sozialdemokraten oder Jean-Claude Juncker von den Christdemokraten. Nein, nein, sagte die Kanzlerin Angela Merkel in einem Zeitungsinterview, das sei keineswegs ausgemacht. Denn der Barroso-Nachfolger werde immer noch von den Regierungschefs bestimmt. Bisher hatten alle so getan, als würde mit dieser Wahl ein neues EU-Zeitalter anbrechen - ab 2015 werde man, von Heckenschützen abgesehen, in wichtigen Fragen mit einer Stimme sprechen.

Über die Motive von Merkels Querschlag kann derzeit nur geraten werden. Ist es ihre Gegnerschaft zu Juncker, dessen Kandidatur sie verhindern wollte? Ist es der in Umfragen nur knappe Vorsprung der Christdemokraten? Sodass Merkel gleich einmal anreißen wollte, dass Schulz es nicht wird, sollte er gewinnen? Oder ist im Hintergrund irgend ein Deal im Werden? Mit den Franzosen oder mit den Briten?

Faktum ist jedenfalls, dass Merkel dem wachsenden Vertrauen gegenüber der ebenso wachsenden Demokratie im Wechselspiel von Parlament und Kommission einen schweren Schlag versetzt hat. Auf einmal muss man sich wieder fragen, warum man am 25. Mai zur Wahl gehen soll. Wenn die EU-Granden dann gar nicht tun, was vorher ausgemacht schien.

Gerade im Konflikt zwischen dem (einmal ziemlich einigen) Westen und Russland angesichts der Entwicklungen in der Ukraine hat Merkel dem russischen Bären einen Dienst erwiesen. Putin kann sich freuen. (Gerfried Sperl, derStandard.at, 10.5.2014)