Jetzt auch noch die Wurst. Als wäre Ö3 mit der wieder einmal entflammten Debatte um einen höheren Anteil heimischer Popmusik im Programm nicht schon genug beschäftigt, sich Ausreden einfallen zu lassen. Nein, jetzt gewinnt Österreich auch noch den Song Contest. Und blöderweise mit einem Lied, das wieder nicht formatradiotauglich ist.

Die Formatierung des Lebens ist aber nicht nur ein Problem von Berieselungssendern wie Ö3. Immerhin, den kann man abdrehen. Schlimm ist es, wenn die Politik die Erscheinungsformen des richtigen Lebens ignoriert oder sie in Formate pferchen möchte, die wie Korsetts wirken. Geformt und eng gebunden von einer Scheinmoral, die das moderne Dasein und seine Diversität nie verstanden hat und es deshalb als beängstigend wahrnimmt.

Beispiellose Solidarisierung

Conchita Wurst ließ einen mit ihrem Sieg beim 59. Song Contest in Kopenhagen ein wenig Hoffnung schöpfen. Denn ihren Triumph verdankte sie nicht nur ihrer Darbietung. Der Zuspruch entsprang einer beispiellosen Solidarisierung mit einem Außenseiter. Die gängigen nationalen Rivalitäten des Song Contest schienen plötzlich weniger wichtig zu sein als das Abschneiden der falschen Dame mit dem richtigen Bart, die von konservativer Seite angefeindet worden war. Das war Millionen weltoffenen Menschen in Europa zu viel. Sie wollten ein Zeichen setzen, und das ist ihnen gelungen.

Wursts Sieg wurde auch in Haushalte übertragen, in denen man sich wahrscheinlich bekreuzigt hat, als man ihrer zum ersten Male ansichtig wurde. Doch dieser bunte Vogel mit den langen Wimpern wurde von Europa nicht auf einen der hinteren Plätze verräumt, sondern auf Händen zum Sieg getragen. Wenn das einige Menschen zum Nachdenken angeregt hat, ist das ein weiterer Sieg, den sich die Wurst an die Brust heften darf. Ihr Beispiel zeigt: Homosexuelle sind keine wehrlosen Opfer, die man nach Lust und schlechter Laune diffamieren kann. Denn dann verscherzt man es sich möglicherweise mit sehr vielen Leuten.

Nachholbedarf

Dass es dazu eine Veranstaltung wie den Song Contest braucht, zeigt, wie viel Nachholbedarf hier besteht. Auch die bisherigen Reaktionen von offizieller Seite verdeutlichen, dass Wursts Sieg nur ein kleiner Schritt auf einem steinigen Weg ist. Lediglich liberale Stimmen gratulierten ihr bisher.

Das konservative Österreich, das sich sonst mit jeder neugeborenen Kuh im Stall ablichten lässt und jeden Kreisverkehr zur Eröffnung in Weihwasser ertränkt, ist schmähstad. Das muss man nicht überbewerten, aber es ist symptomatisch für das vorherrschende arrogant-ignorante Denken. Gleichzeitig stellen sich jene damit auf eine Stufe mit reaktionären Eiferern in so toleranten Ländern wie Russland, der Türkei oder Weißrussland. Was die nicht verhindern können, schweigen sie tot. Eine Kunstfigur wie Conchita Wurst und ihre gesellschaftspolitischen Ansprüche werden stur ignoriert. Es wird nicht erkannt, wofür sie steht, geschweige denn geschätzt. Es gilt immer noch: Es darf nicht sein, was nicht sein darf. Und wieder sind ein paar Wähler verlorengegangen.

Wurst hingegen vermittelte in den letzten Tagen mehr Lebensgefühl als alle Europawahlplakate zusammen. Dazu muss man weder sie noch ihre Musik mögen. Aber sie steht innerhalb eines Wertespektrums, das für viele in Europa zum Glück schon als selbstverständlich gilt. Der Rest musste das am Samstag zur Kenntnis nehmen. (Karl Fluch, DER STANDARD, 12.5.2014)