Die zwei Euridices: Sängerin Christiane Karg und Wachkoma-Patientin Karin Anna Giselbrecht.

Foto: Luca Del Pia

Tiefe Trauer: Countertenor Bejun Mehta (als Orfeo).

Foto: Luca Del Pia

Wien - Die erste Opernproduktion der Wiener Festwochen, Christoph Willibald Glucks Oper Orfeo ed Euridice, zählt ein besonderes Wesen zu ihrem Ensemble: Karin Anna Giselbrecht, 1989 in Bregenz geboren, studierte zunächst in Linz klassischen Tanz und besuchte sodann die Ballettschule der Wiener Staatsoper. Sie schloss ihr Studium schließlich am Dance Art Studio in Wien ab, sammelte Bühnenerfahrung und inskribierte nebenbei auch Slawistik an der Uni Wien. 2011 erlitt Giselbrecht in Bratislava dann einen Herzstillstand und fiel ins Koma. Seit jener Zeit ist sie Patientin im Geriatriezentrum Am Wienerwald.

Karin Anna Giselbrecht kommuniziert - mit Augenbewegungen, mit Blicken, Tränen und einem Lächeln. Sie wurde von ihren Eltern gefragt, ob sie an dieser Inszenierung von Regisseur Romeo Castellucci (in Echtzeit mit Kopfhörern der Musik lauschend) teilnehmen will. Und sie habe zugestimmt, während der Aufführung gefilmt zu werden und dabei eine heutige Euridice zu sein. Castellucci setzt im Wiener Museumsquartier zunächst auf einen schmucklosen Raum und eine Art konzertante Opernversion: Countertenor Bejun Mehta (als Orfeo grandios intensiv in allen Lagen) sitzt auf einem Stuhl und beklagt (in ein Mikrofon singend) den Verlust seiner Gattin Euridice. Seine Reise in den Hades (nachdem ihm Amor, dargestellt vom Wiener Sängerknaben Laurenz Sartena, erlaubt hat, Euridice zurückzuholen) wird hier indes zur - auf einer Leinwand hinter Mehta filmisch absolvierten - Fahrt durch Wien. In verschwommenen Bildern geht es dabei Richtung Geriatriezentrum, wo Giselbrecht hörend liegt.

Am Krankenbett angekommen, entscheidet sich durch die Kamera auch das Schicksal dieser Produktion. Castelluccis Verbindung von Mythos und Giselbrechts Biografie ließe sich ja rein theoretisch jederzeit als radikale Deutung nachvollziehen. Beide erzählen vom plötzlichen Bruch des Lebens, von der Fragilität aller Lebenskonzepte, von Katastrophen und einem Weiterleben in einem Raum zwischen Dasein und Tod.

Diskret Nähe suchen

Die Art und Weise der Umsetzung jedoch könnte alles zunichtemachen. Hier aber zeigt sich Castelluccis Sensibilität, der es sich weitaus leichter hätte machen können. Sehr diskret nähert sich die Kamera Giselbrecht, nur für Momente wird das Bild scharf gestellt, werden aufgeregte Augen sichtbar, während in Giselbrechts Blick plötzlich Christiane Karg (als grandios singende Euridice) hinter der nun halb transparenten Leinwand sichtbar wird. So vermitteln sich - in Echtzeit - unmittelbare Emotionen und Reaktionen eines hörenden Menschen, ohne dass dieser seiner Würde beraubt wird.

Gleichzeitig aber beschönigt Castellucci nichts. Er porträtiert einen Menschen, dessen permanente Grenzsituation evident wird, der dabei allerdings nicht instrumentalisiert wird, um auf drastische Art und Weise ausschließlich Verstörung auszulösen, die selbstverständlich unvermeidlich bleibt.

Im Grunde wird hier Musiktheater als ein umfassender Blick auf Existenzielles verstanden. Er bleibt direkt, ohne plakativ zu geraten. Auch das bei Gluck komponierte Happy End wird unprätentiös mit Giselbrechts Situation verbunden: Orfeo sieht seine Euridice am Schluss aus der Distanz in blühender Landschaft baden, bevor Stille einkehrt und man - wieder verschwommen - Giselbrecht im Pavillon 11 sieht, wie ihr Pflege zuteilwird.

Klangvolles Kollektiv

Könnte man Castellucci vorwerfen, sich abseits der filmischen Bilder szenischer Ideen weitestgehend entschlagen zu haben, so gäbe es bezüglich der Arbeit von Dirigent Jérémie Rhorer und des B'Rock - Baroque Orchestra Ghent nichts einzuwenden. Das Kollektiv - und auch der Schoenberg Chor - vollbringen ein Wunder an klanglicher Delikatesse. Da sind ruppige Attacke wie auch seidenweiche Poesie zu hören - und dies in einer Lebendigkeit und Klarheit, welche diese Produktion schließlich entscheidend bereichert.

In Summe wird aber auch evident, dass durch die Festwochen-Intendanz von Markus Hinterhäuser, was Oper anbelangt, das Unverbindliche der letzten Jahre abdanken wird. Großer Applaus. (Ljubiša Tošic, DER STANDARD, 13.5.2014)