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"Wo in der Welt gibt es das, dass ein Schriftsteller um sein Leben fürchten muss? Nur bei zwei Gemeinschaften: beim Islam und der Mafia."

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Der deutsch-ägyptische Politologe Hamed Abdel-Samad kritisiert eine "Kultur der Einschüchterung", die es verunmögliche, offen über die Gefahren des Islamismus zu reden. Würden Muslime damit beginnen, die problematischen Aspekte ihrer Religion selbst zu thematisieren, würde das Rassisten und Populisten den Wind aus den Segeln nehmen.

derStandard.at: Aus Österreich sind angeblich zwei sehr junge Mädchen Richtung Syrien geflogen, um sich am Bürgerkrieg zu beteiligen. Wie erklären sie sich so etwas?

Abdel-Samad: Der radikale Islam übt eine ungeheure Faszination auf junge Menschen aus. Es gibt immer junge Leute, die sich abgrenzen wollen. Früher wurden sie links- oder rechtsradikal, Punks, trugen T-Shirts mit einem Bild von Che Guevara. Das beeindruckt niemanden mehr. Aber der Salafismus, der Gedanke des Dschihad, das beeindruckt. Wenn man in Salafistentracht herumläuft, zieht man die Aufmerksamkeit auf sich. Für den Betroffenen heißt das: Ja, du kannst Angst vor mir haben. Nach dem Motto: "Ich mach dich Opfer."

Der radikale Islam, so naiv seine Gedanken sind, bietet geschlossene Formeln: Eins plus eins macht zwei. Man bietet in einer Zeit, wo man moralisch desorientiert ist, sozial nicht so gebunden und in einer Leistungsgesellschaft bestehen muss, eine Lösung. Die Leute kommen und sagen: Du musst das alles nicht. Du musst nur gläubig sein, fünfmal am Tag mit uns beten, Videos vom Krieg aus Syrien sehen. Eine Sache entwickeln, die uns bedrückt und betrifft. Und dann sagen sie: Du musst keine Leistung in der Schule bringen, wir haben für dich eine Win-win-Situation: Du ziehst in den Dschihad, und wenn du gewinnst, hast du danach politische Macht und Geld. Wenn du verlierst, stirbst du als Märtyrer. Das heißt, du gewinnst so oder so und musst dich mit dem Leben nicht mehr auseinandersetzen.

derStandard.at: Ist Österreich mittlerweile zu einem Zufluchtsort für islamistische Gruppen geworden?

Abdel-Samad: Irgendeinen Grund muss es geben, warum Graz als Niederlassungsort für die Muslimbrüder überhaupt infrage gekommen ist. Der Vorsitzende der ägyptischen Gemeinde in Österreich hat auch vorab gesagt, dass die Muslimbruderschaft eine friedliche Bewegung und demokratisch gesinnt ist. Das heißt für mich schon: Sie haben Freunde hier. Das kenne ich auch von früheren Veranstaltungen aus den 90er-Jahren in Linz. Da habe ich schon gemerkt, dass man in Österreich nicht nur eine konservative Auslegung des Islams zu hören bekommt, sondern auch eine radikale Auslegung von einigen Predigern.

derStandard.at: Machen die derzeitige Militärherrschaft in Ägypten und das rigide Vorgehen gegen die Muslimbrüder mit Todesurteilen den Nährboden für Islamismus nicht noch fruchtbarer?

Abdel-Samad: Die Absetzung von Morsi und den Muslimbrüdern war vollkommen richtig. Ägypten war auf dem Weg in die Staatslosigkeit. Sehen wir uns die Nachbarn an: Dort, wo die Islamisten stark sind, gibt es keinen Staat mehr. Syrien, Libyen, Jemen, Irak. Die Muslimbrüder waren dabei, aus Ägypten einen zweiten Iran zu machen. Dass das Militär danach Fehler gemacht hat, Menschenrechtsverletzungen, kann man nicht bestreiten. Das habe ich kritisiert. Aber das bedeutet nicht, dass die Muslimbrüder unschuldige Opfer sind. Ich bin gegen die Todesurteile, aus Prinzip. Aber das Militär hat die Todesurteile nicht eingeführt. Die Voraussetzung wurde in der Gesetzgebung geschaffen, die sich ursprünglich auf die Scharia beruft.

Natürlich verdienen Leute, die einen Terroranschlag verüben, eine harte Strafe. Aber diese Massenvergeltung schafft neue Märtyrerlegenden, und genau das brauchen die Muslimbrüder, um neue Mitglieder zu rekrutieren und einen neuen Mythos aufzubauen. Sie haben dem Land sehr viel Leid zugefügt und verdienen eine Strafe, aber die Prozesse sollten rechtsstaatlich geführt werden. Diesen Eindruck habe ich derzeit nicht.

derStandard.at: Ist die derzeitige militärische Führung unter Abdel Fattah al-Sisi die bessere Alternative?

Abdel-Samad: Es ist kein Wunschkonzert. Mein Kandidat ist Sisi nicht. Während des Machtkampfs zwischen Militärs und Islamisten ist die demokratische Kraft mit Mohammed el-Baradei in der Mitte gestanden und hat nur zugesehen. Sie hat sich nicht zu einer dritten Kraft weiterentwickelt, die ein Gegengewicht darstellt. Es ist jetzt die einzig logische Entwicklung, dass Islamisten oder Militär am Ruder sind. Mir wäre eine zivile Regierung lieber. Aber wer kann das machen, wer hat die Strukturen, die Überzeugungskraft? Die Ägypter sind in zwei Jahren zweimal auf die Straße gegangen und haben zwei Diktaturen gestürzt. Sie haben nach dem Sturz der Muslimbrüder gemerkt, dass sie sich weder von der Scharia noch von der Freiheit ernähren können. Es braucht wirtschaftliche Strukturen. Weltmeister im Demonstrieren sind wir ja schon. Aber wenn es um politische Arbeit geht, sind wir noch in der Pubertät. Das soll sich ändern. Und dann erst können wir uns wünschen, wer unser Präsident ist. 

derStandard.at: Braucht es dazu eine dritte Revolution?

Abdel-Samad: Es ist genug demonstriert worden. Das Land blutet wirtschaftlich aus. Wir müssen sehen, dass die Investoren und die Touristen zurückkommen. Wir brauchen eine geistige Revolution. Wenn die demokratischen Kräfte jetzt noch mal auf die Straße gehen und das Militär stürzen, kommen die Muslimbrüder möglicherweise zurück, mit aller Brutalität. Bevor ich jemanden stürze, muss ich erst einmal wissen, was danach kommen soll.

derStandard.at: Ist es legitim, nach der Geschichte des 20. Jahrhunderts nun auch eine Parallele zwischen Islamismus und Faschismus zu ziehen?

Abdel-Samad: Ich will den Islamismus nicht überhöhen und den Nationalsozialismus nicht relativieren. Ich vergleiche nicht die Zahl der Toten, sondern die Ideologie, die Organisationsstrukturen und die Ziele miteinander. Gerade da ist der Vergleich mehr als legitim. Die Ideologie, die den Weg zur Gewalt ebnet. Die Ideologie, die die Welt in Gut und Böse aufteilt und die eigenen Anhänger mit Hass und Ressentiment vergiftet, die totale Vernichtung der Feinde propagiert, extrem antisemitisch ist und von der Überlegenheit der eigenen Gruppe ausgeht. Die Ideologie, die die Weltherrschaft für sich beansprucht. Die Kultur des Todes, die den Kampf mystifiziert. Man kämpft nicht, um zu leben, sondern man lebt, um zu kämpfen. Bei den Organisationsstrukturen sind es die Hierarchie und das Führerprinzip, der Gehorsam. Wenn wir über die Ziele sprechen, die Gesellschaft zu uniformieren, die Individualität zu vernichten und mit der Gesellschaft zurückzurollen zu einem alten Gesellschaftsbild und die Welt zu beherrschen.

derStandard.at: Wird der Begriff des Faschismus nicht mittlerweile schon inflationär gebraucht?

Abdel-Samad: Nein, der Islamismus ist die größte Gefahr für die Weltsicherheit. Das ist eine Tatsache. Die Probleme werden immer schlimmer. Es gab Leute, die früher eine Bewegung wie Boko Haram nicht als islamistisch bezeichnet haben. Und jetzt wollen sie nicht zugeben, dass sie sich geirrt haben.

Man muss den Gefahren begegnen. Schlimm ist nicht, wenn man den Islamismus mit Faschismus vergleicht, sondern wenn man sagt, dass es einen moderaten Islamismus gibt. Wo genau? Auf dem Mars? Auf der Erde habe ich bis jetzt keinen moderaten Islamismus gesehen. Aber viele Islamwissenschaftler propagieren das.

derStandard.at: Welche Reaktionen hat Ihr Buch über "islamischen Faschismus" in der islamischen Community in Deutschland ausgelöst?

Abdel-Samad: Ich bekomme viele Zuschriften via Facebook. Es gibt junge Muslime, die schreiben, dass sie nicht mit all meinen Punkten einverstanden sind, aber es wichtig finden, dass die Probleme in aller Deutlichkeit benannt werden. Andere haben einen Beleidigungsknopf, auf den sie immer drücken, wenn ein islamkritisches Buch erscheint. Sie glauben, das Problem des Islam ist nur ein Imageproblem. Das ist ein Denkfehler. Das echte Problem ist der Anspruch des Islam, die Rollenvorstellung, die Gewalt im Namen des Islam. Wenn diese Probleme gelöst werden, gibt es auch kein Imageproblem mehr.

Islamverbände sind natürlich automatisch gegen das Buch, weil sie kritisiert werden. Sie profitieren von einem bestimmten Islambild. Das Buch macht ihnen diese Deutungshoheit streitig und deckt ihre Strategien auf. Sie gehen aber genau mit dem gleichen Impetus gegen gläubige Muslime vor. Die Islamverbände leben von der Kluft und Abgrenzung.

derStandard.at: Was unterscheidet Ihre Kritik von populistischer Hetze gegen Muslime?

Abdel-Samad: Niemand darf einen Generalverdacht gegen alle Muslime aussprechen. Aber: Religion ist nicht unantastbar. Man kann alles über Religion schreiben. Es gibt das "Leben des Brian", warum nehmen wir das hin? Gläubige Christen leben damit. Es ist Teil der Aufklärung der modernen Gesellschaft, dass Satire auch alles darf.

Bei einer Lesung hat eine Muslimin mit Kopftuch zu mir gesagt: Ihr Buch macht mir das Leben in diesem Land schwer. Ich habe gefragt: Können Sie frei auf der Straße mit Kopftuch gehen? Das hat sie bejaht. Die junge Dame hat nicht gemerkt, dass ich derjenige bin, der immer mehrere Polizisten dabeihaben muss, wenn ich auftrete. Sie kann überall hingehen, keiner tut ihr was. Das sieht sie nicht. Wo in der Welt gibt es das, dass ein Schriftsteller um sein Leben fürchten muss? Nur bei zwei Gemeinschaften: beim Islam und der Mafia. Wer diese Kultur der Einschüchterung übersieht, verharmlost ein Riesenproblem. Meine Kritik mag übertrieben sein – so what? Warum kriminalisiert man übertriebene Kritik? Man kann darauf mit Kritik antworten.

derStandard.at: Machen es Rechtspopulisten Muslimen schwer, die Selbstkritik zu üben, die nötig wäre?

Abdel-Samad: Warum? Wenn Muslime die Selbstkritik üben, wird die FPÖ überflüssig. Das sage ich die ganze Zeit: Nehmt das Heft selber in die Hand, verbarrikadiert euch nicht in der Opferrolle. Thematisiert die Probleme untereinander, geht damit an die Öffentlichkeit, dann werden die Rassisten und Populisten überflüssig. Solange man aber immer jede Form von Kritik als Islamophobie bezeichnet, kommt man nicht weiter und wird nicht glaubwürdig. (Teresa Eder, derStandard.at, 15.5.2014)